
17/10/2025 0 Kommentare
Zeitlos
Zeitlos
# Wort zum Alltag

Zeitlos
Geht es Ihnen auch so dass Sie in den Gesichtern der Menschen, mit deren Bildern uns die Medien überschwemmen, nachdem suchen, was Nachrichten nicht erzählen und erst recht, was uns verbindet? Ich schaue mir dann die Männer an, die jetzt aus der Geiselhaft nach Hause kommen und die, die in der Ukraine an der Front sind oder auf der Flucht, um sich dem Kriegsdienst zu entziehen. Ich schaue in die Gesichter derer, die in Gaza um Nahrung kämpfen und sehe die dunklen Augenringe einer Nachrichtensprecherin, die all das Bildmaterial sichten und sich entscheiden musste.Ich denke an ihre Mütter. Dass was sie für ihre Kinder erhoffen oder fürchten. Es wird sich nicht groß von uns unterscheiden: mögen sie nur heil an Leib und Seele bleiben…
In meinem Schreibtisch liegt das Poesiealbum meiner Urgroßmutter. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, das diese Frau ihrer Söhne, ihrer Schwester und ihrer Heimat berauben sollte, schrieb ihre Mutter in das kleine Goldschnittbuch ein Gebet. Ich brauchte ein bisschen, um die Sütterlinschrift zu entziffern und dann staune ich über die Zeitlosigkeit der Worte: „Herr, gib uns helle Augen, Die Schönheit der Welt zu sehn! Herr, gib uns feine Ohren, Dein Rufen zu verstehn, Und weiche, linde Hände Für unserer Brüder Leid Und klingende Glockenworte Für unsere wirre Zeit! Herr, gib uns rasche Füße Nach unserer Arbeitsstatt — Und eine stille Seele, Die deinen Frieden hat.“
Klingende Glockenworte. Das kling eher nach Gesang als nach Kommando, eher nach Harmonie als nach Lärm. Hilft das in wirrer Zeit? Oder braucht es nicht doch den heiligen Zorn? Manchmal warte ich darauf. Und dann denke ich an Elia und daran, dass Gott nicht im Sturm und nicht im Erdbeben kam, sondern in der Stille. Tja eben – um feien Ohren ging es auch.
Dompredigerin Cornelia Götz
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