16/12/2025 0 Kommentare
Mutter ohne Worte
Mutter ohne Worte
# Wort zum Alltag

Mutter ohne Worte
Sie sei jetzt für ihn eine Mutter ohne Worte, sagt er. Schon seit einem Jahr spricht seine Mutter nicht mehr. Damals war der Schlaganfall. Mit allem, was dann folgte: das Krankenhaus und Pflegeheim, die vielen Anträge und die Auflösung der Wohnung. Er hat sich um alles gekümmert, obwohl er mehr als genug Arbeit hatte.
Früher hätten sie nicht das allerbeste Verhältnis gehabt, sagt er. Da war oft mehr Schweigen als Reden zwischen Mutter und Sohn. Nach dem Schlaganfall sei etwas anders geworden, sagt der Sohn: „Seit Mama nicht mehr spricht, ist mehr Zuwendung.“ Ihr Schicksal hat auch sein Leben verändert.
Im Erzählen wird deutlich, was er damit meint: Sooft es die Zeit zulässt, fährt er ins Pflegeheim. Seine Mutter sitzt dann schon im Rollstuhl bereit, so ist es mit dem Pflegeteam abgesprochen, und er fährt sie an den nahegelegenen See. Da sitzen sie dann still nebeneinander: der Sohn auf der Bank, die Mutter im Rollstuhl. Zwei ohne das beste Verhältnis schauen vor sich hin und um sich herum. Und im Schweigen entsteht etwas, für das die richtigen Worte fehlen.
Bevor sie dann nach vielleicht einer Stunde aufbrechen, um zurückzugehen, hat der Sohn sich etwas angewöhnt. Ein kleines Ritual: Wenn er die Griffe des Rollstuhls in seine Hände nimmt, beugt er sich kurz zu seiner Mutter hin und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Jedes Mal. Seit einem Jahr. Er weiß nicht, was die Mutter fühlt, wenn er sie küsst. Aber er spürt, dass da etwas ist oder entsteht. Vielleicht fühlt die Mutter, die keine Worte mehr hat, den Sohn und seine Nähe. Ein Funke Zuwendung, der überspringt. Wie ein kleines Leuchten im Dunkeln.
Es ist eine berührende Geschichte vom Suchen und Zueinanderfinden. Ganz still. Ohne ein Wort. Zu ihr passt ein Text des Theologen Jörg Zink: „In die Stille gehen heißt nicht immer / sich entfernen von den Menschen. / Es heißt auch / ihr Herz suchen / ohne Worte zu brauchen. / Ihnen nahe sein als Gefährten in Gott. / Denn in Gott sein heißt lieben“.
Wer diesen Gedanken adventlich hören möchte, dem klingt er in dieser Woche vor dem vierten Advent in diesen vertrauten Zeilen entgegen: „So kommt der König auch zu euch, / ja, Heil und Leben mit zugleich. / Gelobet sei mein Gott, / voll Rat, voll Tat, voll Gnad.“ (EG 1,4)
Pfarrer Henning Böger
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