4. Sonntag nach Trinitatis

4. Sonntag nach Trinitatis

4. Sonntag nach Trinitatis

# Predigt

4. Sonntag nach Trinitatis

Cornelia Götz, Dompredigerin


„Einer trage des anderen Last…“ - so heißt es über diesem Sonntag und dieser Woche. Anspruchsvoll klingt das. Aber ich bin überzeugt, dass die allermeisten dazu im Grunde bereit sind.  Allerdings: Weiß man denn, woran ein Mensch schleppt? Es sind ja nicht immer schwere Kisten, mit denen man behilflich sein kann.  Manches sieht man trotzdem: da geht einer krummer und krummer, kratzt sich eine die Haut oder zerbeißt die Nägel, wird einer dicker oder dünner, hat dunkle Ringe unter den Augen.  Dann kann man eine Bürde ahnen.  Schwerer machen es uns die Profis unter den Lastenträgern. Die, die stets aufgeräumt und tatkräftig unterwegs sind, gute Laune verbreiten und derartig viele Lasten anderer wegschleppen, dass man vergisst, ihre Belastbarkeit im Auge zu behalten.  Ein Mensch sieht eben bestenfalls, was vor Augen ist - wenn die denn heil sind.  Und hin du wieder hören wir auch - manchmal ganze Geschichten, dann wieder nur ein Satz.  Als junge Dorfpfarrerin habe ich mich einmal zu einem Geburtstagsbesuch aufgemacht. Ich war verwundert, weil ich von dem Hof, zu dem ich wollte, gar nicht wusste, dass dort noch jemand lebt. So klopfte ich an einer niedrigen Tür und stand einer schlohweißen kerzengeraden uralten Frau gegenüber. Sie hatte kornblumenblaue Augen. Ich war verblüfft, weil ich sie noch nie im Dorf gesehen hatte. Ob sie denn immer drinbliebe? Und sie sagte nach oben blickend: „Was soll ich unter diesem Himmel.“  Nur ein Satz. Und 60 Jahre Heimweh… Kann man solche Last abnehmen, leichter machen? Andere sind womöglich noch schwerer und noch gründlicher versteckt.  Und wenn sie einem dann unvermutet übergeben werden, so dass man glaubt, mit diesem Gewicht durch den Boden zu brechen, denken wir fassungslos: „Das alles schleppst Du mit…?“ Da hinein - irgendwie aus dem Zusammenhang aber auch in jeden Augenblick und jede Begegnung passend - hören wir:  „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.“ Zack, zack, zack. Manche Menschen machen gleich zu, wenn sie mit solch einem Schwung Imperative angeredet werden. Eigentlich möchte man sie dann schütteln: Hör doch mal zu!  Aber hab ich selbst zugehört?  Wer weiß, warum sie das nicht ertragen. Vielleicht sind sie ja ihr ganzes Leben lang rumkommandiert, hin- und hergeschubst worden.  Kann man denn die Geschwindigkeit und Unmittelbarkeit dieser Aufforderungen ein bisschen bremsen - damit es barmherziger klingt? So vielleicht: Seid doch barmherzig, richtet und verdammt nicht.  So ist es schon fast eine Bitte. So könnte man herauszuhören: das soll gar keine Überforderung sein. Es ist vielmehr eine unserer Möglichkeiten. Wir können das.  Barmherzig sein. In dem alten Wort steckt das „barmen“ und „bärmeln“ - das klagen, jammern, armselig dran sein. Und auch das Herz. Denn Erbarmen braucht ein weites Herz und offene Augen, manchmal auch Geduld und starke Nerven. Aber Erbarmen kommt ziemlich gut ohne unser Urteil aus - obwohl wir damit meistens schnell zur Hand sind. Genauer: Erbarmen braucht unser Urteil überhaupt nicht - richtet nicht, verdammt nicht.  Das steht uns nicht zu.  Wir würden uns wahrscheinlich irren, wir sehen ja nur, was vor Augen ist. Und wir sehen nur aus unserem Blickwinkel, aus unserem Kopf heraus. Wir gehen in unseren Schuhen, stecken nicht in der anderen Haut, ahnen nichts von dem, was jemand aushalten und schaffen kann oder auch nicht. Was sie schon durchgemacht hat.  Dieser Imperative sind deshalb - so ahne ich - vor allem eine Sehhilfe. Für jede und jeden. Ich brauche Barmherzigkeit ja auch und bin dankbar, wenn ich nicht rechtfertigen und erklären muss, warum ich hier eine dünne Haut und dort eine kurze Leitung habe, für das eine Verständnis und ein großes Herz habe und anderes nicht hören will.  Wie? Ich seh mich ja selbst nur stückweise.  Muss man das gemeinsame und gegenseitige Durchtragen also ganz anders aufziehen? Nicht, indem man die Lasten der anderen nimmt - das wäre wohl auch totale Selbstüberschätzung, sondern: „Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.“ Gebt. Von mir zu dir. Von dir zu mir. Von Mensch zu Mensch. Wir sind alle unvollkommen, endlich und verbunden, angewiesen aufeinander. Symbol dafür ist der Querbalken des Kreuzes. Das ist unsere Dimension und etwas ganz anderes als: ich über dich oder du über mich, wie das wäre, wenn wir urteilen und richten. Denn das wäre der Horizontalbalken. Und der steht allein Gott zu. Gebt doch. Es ist möglich.  Und barmherzig, denn Geben ist nicht nur seliger als Nehmen, es ist auch einfacher: wer nimmt, muss zeigen, was er braucht, ein Bedürfnis, eine Sehnsucht, eine Leere offenbaren. Das kann schwer sein, braucht Vertrauen, das nicht jede hat. Wer gibt, entäußert sich, sieht von sich selbst ab, bleibt sicher vor den urteilenden manchmal gar verdammenden Blicken anderer und erntet Dankbarkeit, Freude, Zufriedenheit - einen ganzen Berg, denn das Maß ist nicht glattgestrichen und exakt gemessen, sondern großzügig zugeteilt, mit Berg.  Ist das so.  Klar denke ich und lese:  „Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann denn ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?“ Was zu beweisen war. Wie komme ich dazu, all das aufzuschreiben, aussprechen, mir anmaßen zu wollen? Mein Kopf und Verstand bocken ein bisschen. Auch Blinde finden Wege… in Gruben müssen sie nur fallen, wenn eine ungesichert ist und plötzlich auftaucht, wenn jemand … - da ist es schon, das schnelle Urteil, das in der Grube Böswilligkeit vermutet. Aber es geht hier nicht um blöde Unfälle. Es geht dem Lukas um Barmherzigkeit und immer wieder um das Sehen. So ist es in der Weihnachtsgeschichte und zu Ostern. So schreibt er es in der Apostelgeschichte, in der um die ersten Christen geht und ihre Versuche Gemeinde zu sein, eine der anderen Last zu tragen. Da heißt es: „Ich will sie retten und ihnen die Augen öffnen.“ Wie geht das?  Und da folgt das berühmte Gleichnis vom Splitter und den Balken.  Das haben wir gelernt zu lesen und zu hören, oder? Wer selbst im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen schmeißen.  Wer schlechte Augen, soll sich kein Urteil anmaßen.  Wer nur stumpfe Umrisse sieht, soll nicht… Das haben wir uns zu Herzen genommen und uns zu kleinen hässlichen Heuchlerinnen mit fetten Balken im Auge gemacht.  Aber ist das gemeint? Wo bleibt die Barmherzigkeit bei solch hartem Urteil?  Ich schaue das Bild an und denke:  Es ist eigentlich egal, ob ich einen Splitter oder Balken im Auge habe.  Das tränt und schmerzt in jedem Fall. Da braucht es keinen Erzieher. Da brauche ich einen Arzt. Da werde ich so lange jammern und bärmeln, bis sich einer erbarmt und mein Auge heilt und mein Herz wird sich zusammenziehen, wenn ich eines anderen verletztes Auge sehe.  Ich werde seine Last sehen und mit ihm barmherzig sein können. So einfach ist. 


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