26/10/2025 0 Kommentare
19. Sonntag nachTrinitatis - "Da geht ein Mensch"
19. Sonntag nachTrinitatis - "Da geht ein Mensch"
# Predigt

19. Sonntag nachTrinitatis - "Da geht ein Mensch"
"Da geht ein Mensch“ So heißt die schmerzlich anrührende Autobiografie von Alexander Granach. Geboren 1890 als neuntes Kind einer bitterarmen jüdischen Bäckerfamilie in Ostgalizien, arbeitete er als Kind in der Bäckerei, ging mit zwölf von Zuhause weg, träumte vom Theater. 16-jährig ging er nach Berlin und wurde tatsächlich an Max Reinhardts Schauspielschule zugelassen. Granach wird Soldat im ersten Weltkrieg, Theater- und Stummfilmstar. 1938 geht er wieder los und emigriert in die USA, startet eine neue Karriere. Dann stirbt er nur 54-jährig nach einer Blinddarmoperation in New York.
„Da geht ein Mensch“. Und eigentlich ist damit alles gesagt. Da geht ein Mensch. Für mich sind diese vier Worte Überschrift und Zusammenfassung unseres Predigttextes - Sie haben ihn vorhin gehört:
An einem Teich liegt ein Gebäudekomplex mit fünf Hallen voller Kranker, Ausgezehrter, Verlorener, Versehrter. Jede und jeder aus der Bahn geworfen - die Gründe so unterschiedlich wie Menschen sind und auch, was sie einander antun.
Sie alle sind gefesselt an diesen Ort, der sie darauf reduziert, gebrechlich und schwach zu sein, aussortiert. Ihrer aller Hoffnung richtet sich auf einen Teich, der sich dann und wann bewegt – aber nicht so, dass man damit verlässlich rechnen könnte. Wer nach solcher Bewegung das Wasser zuerst erreicht und hineinsteigt, wird gesund. Wettkampf und Konkurrenz auch unter den Schwächsten und zugleich etwas, das jede und jeder kennt: irgendwer ist immer schneller, geschickter, gerissener. Man mag sich den Kampf um diesen Spitzenplatz der Not nicht ausmalen.
Johannes erzählt: Dort war ein Mensch. Und ich stocke und denke: Sind die anderen keine Menschen? Werden sie nicht mehr als Menschen wahrgenommen? Oder haben sie im Kampf um ihre - womöglich einzige - Überlebenschance ihre Menschlichkeit verloren? Dort war ein Mensch. Dieser konnte ausgerechnet das, was Menschen äußerlich ausmacht, nicht. Er konnte nicht aufrecht gehen. Er konnte gar nicht gehen. Er liegt.38 Jahre lang. Damals ein ganzes Leben. Das ist seine Wirklichkeit. Seine Perspektive. Seine ganze Welt.
Und da geht ein Mensch. Jesus Christus. Er kommt – unerkannt, ohne Tumult, ohne Menschenmassen, ohne Aufruhr. Er kommt, weil er die Orte aufsucht, an denen Menschen keine Worte mehr haben, kein Brot, keine Fische, kein Zuhause.Er geht wieder und wieder Wege ab, auf denen sich Menschen durch ihr heruntergewirtschaftetes ausgehungertes Land schleppen. Er geht dorthin, wo es wüst ist, wo man nicht sein will. Da geht ein Mensch, der mitfühlt und hinsieht, der sich aussetzt und nachspürt. Er muss nicht fragen. Er weiß, was sich in 38 Jahren ansammeln kann: Die vielen verlorenen Träume und Hoffnungen. Die vielen vergeblichen Momente, in denen eine Chance auf ein anderes Leben aufgeflackert und im nächsten Moment erloschen ist.
Er kommt deshalb gleich zum Punkt: „Willst Du gesund werden?“ Vielleicht ist es das erste Mal in all der langen Zeit, dass das Schicksal dieses Kranken einen anderen Menschen beschäftigt, dass jemand wirklich wissen will, was Not tut und gut wäre.Es sind so viele um ihn herum, die auch Hilfe brauchen, die auch gestrandet sind an diesem Ort, die sich auch nach einem anderen Leben sehnen. Aber das ist sein Moment. Glaube, Liebe, Gnade - es geht von Angesicht zu Angesicht. Für Dich. Für mich.
„Willst Du?“Man würde denken, dass jetzt sofort ein großes erleichtertes „Ja“ folgt. Aber so ist es nicht. Denn: Was wäre wenn? Was wäre wenn all die Veränderungen, die wir für richtig und wichtig halten, wirklich eintreten würden? Was wäre, wenn wir uns nicht mehr mit misslichen Umständen entschuldigen könnten? Was wäre wenn uns nichts mehr hinderte? Was wäre wenn wir auf einmal aufstehen und gehen würden?
„Willst Du gesund werden?“ Will er das? Irgendwie ist Versorgung ja möglich gewesen - sonst hätte er 38 Jahre lang nicht überlebt. Irgendwie hat er sich gewöhnt an Grenzen und an Abhängigkeit. Er hat nicht gejammert, nicht auf sich aufmerksam gemacht. So eine Lähmung, so eine Gefangenschaft in sich selbst, mit sich selbst, zieht sich langsam - fast unmerklich - fest. Jetzt ist es eben so. Aber Jesus hat ihn gesehen. Da liegt ein Mensch. Und der merkt nicht, was geschieht. Er weiß noch nicht, dass die Begegnung seines Lebens bevorsteht - so wie sie jeden Moment auch für uns möglich ist und alles ändern kann. Dieser ist ganz fixiert auf den Teich, darauf dass er den nie erreichen wird. Er steckt so fest in seiner Lage, dass ihm das „Ja“ gar nicht einfällt.
Nur Gründe, warum es nicht geht. Weil keiner hilft…. Weil immer die anderen… Jesus übergeht diese Antwort. Er überhört das. Es würde ein Sackgassengespräch, das zu nichts führt.Fragt er deshalb nicht zurück? Geht es mit Reden hier nicht weiter? Ist es manchmal eben doch nicht das Beste alle „mitzunehmen“ und zu warten, bis jede und jeder verstanden hat? Hier scheint es so zu sein… Die nächsten Worte sind keine Frage mehr. Sie klingen nicht nach einem Wunder, sondern nach einer naheliegenden unterschätzten Möglichkeit. „Steh einfach auf, nimm deine Matte, und geh. Nimm die Matte mit! Komm nicht zurück. Lebe!“ Und er steht auf. Da geht ein Mensch.
Wo geht er hin? Auf die andere Straßenseite? In eine fremde Welt? Nach Hause? Ich wünsche mir, dass er mit großen Schritten weit ausschreitet und vergisst, sich zu fragen, ob er noch Muskelmasse hat. Ich wünsche mir, dass er sich streckt und tief einatmet, dass er spürt, wie sein Herz schlägt, der Schweiß läuft, dass er lebt. Ich wünsche mir, dass er leuchtet und fröhlich ist, glücklich. Und dass andere ihm kommen sehen und stehen bleiben und ihm nachsehen und sich denken: Da geht ein Mensch. Wie schön das ist.
Cornelia Götz, Dompredigerin
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