Das Wort zum Alltag

Seit dem 1. Dezember 1968 gibt es von Montag bis Freitag um 17.00 Uhr und Samstag um 12.00 Uhr eine kurze Andacht mit Gebet, die von Orgelmusik gerahmt wird.
Wir möchten Menschen damit ermöglichen für ihre eigene Praxis pietatis eine regelmäßige Form zu finden. Zugleich birgt das Format die Möglichkeit auf die jeweils aktuellen Ereignisse in unserer Stadt und unserer Welt zu reagieren.

Während des Advents und der Friedensdekade hat das Wort zum Alltag einen besonderen Akzent. Das Wort zum Alltag wird in der Regel von der Dompredigerin, sowie von anderen Braunschweiger Pfarrerinnen und Pfarrern und Prädikanten gehalten. Die umrahmende Orgelmusik übernehmen die Kantoren des Braunschweiger Doms.

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Worte zum Alltag

  Vom Leben in der Bubble

Vom Leben in der Bubble

Heiko Frubrich, Prädikant - 19.04.2024

Die eigenen vier Wände – sie sind unser Zuhause, unser Rückzugsort, unser kleines privates Reich. Zunehmend an Bedeutung gewinnt aber neben den eigenen vier Wänden auch die eigene Bubble, die eigene Blase, in der wir leben. Diese eigene Bubble sind unsere Bekannten- und Freundeskreise, in denen wir uns bewegen. Uns verbinden mit ihnen dieselben Interessen und Hobbys, eine ähnliche Weltanschauung und politische Ausrichtung und oft auch vergleichbare Werte.
Obwohl wir uns untereinander nicht alle persönlich kennen, sind auch wir hier heute Nachmittag in gewisser Weise eine Bubble, denn wir haben alle eine Beziehung zu Spiritualität, zur Kirche oder zum christlichen Glauben.
Das Leben in so einer Bubble hat eine Reihe von Vorteilen, denn man kann sich darauf verlassen, dass es zwischen den Menschen darin etwas Verbindendes gibt. Wir mögen alle Fans unterschiedlicher Fußballvereine sein oder, so wie ich, mit diesem Thema gar nichts anfangen können, wir mögen ganz unterschiedlich über die Notwendigkeit von Koriander im Essen denken, unseren Urlaub lieber in den Bergen verbringen oder lieber am Meer, aber wir haben uns alle in unserer Dom-Bubble heute Nachmittag hier versammelt.
Schwierig und gefährlich wird es, wenn nicht wir uns für eine bestimmte Bubble entscheiden, sondern von anderen darin einsortiert werden. Sehr gekonnt und sehr subtil geschieht dies mittlerweile in den sogenannten sozialen Netzwerken. Wenn Sie sich auf Instagram oder TikTok ein süßes Katzenvideo ein- oder zweimal gegönnt haben, werden Sie fortan überschüttet mit Katzenvideos. Und wenn Sie sich auf solchen Plattformen ein oder zweimal ein Video mit gut verpackten extremistischen und rassistischen Inhalten angeschaut haben, passiert dasselbe. Der Unterschied ist: Bei den Katzenvideos merkt es jeder sofort, bei der Infiltration mit extremistischem Gedankengut nicht zwingend.
Dadurch wird der Weg in eine Desinformations-Bubble bereitet, den insbesondere jüngere Menschen beschreiten, ohne es sofort zu bemerken. Und so werden Lügen durch permanentes Wiederholen langsam zur gefühlten Wahrheit, der Hass auf Andersdenkende immer stärker und das suggerierte Feindbild immer klarer.
Es ist schwer, dagegen anzukommen. Aufklärung und Wachsamkeit sind ein Weg in die richtige Richtung. Und ich finde, dass wir, die wir uns in unserer Bubble heute Nachmittag hier versammelt haben, eine besondere Verantwortung tragen. Denn wir berufen uns auf Jesus Christus, der ein großer Freund der klaren Botschaft ist und uns sagt: „Wenn ihr bleiben werdet bei meinem Wort, so werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Amen.

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  Leihmutterschaft-ein biblisches Thema

Leihmutterschaft-ein biblisches Thema

Heiko Frubrich, Prädikant - 18.04.2024

Am vergangenen Sonntag wurde in vielen unserer Kirchen über die Geschichte von Sarai, Hagar und Abraham gepredigt. Es geht darum, dass Gott Abraham viele Nachkommen versprochen hat, doch seine Frau Sarai nicht schwanger wird. Daraufhin beschließt Sarai, Abraham ihre Sklavin Harar zur Verfügung zu stellen, damit Abraham mit ihr ein Kind zeugt. Sarai macht damit ihre Sklavin zwangsweise zur Leihmutter, denn Hagar hatte als Slavin ganz sicher keine Möglichkeit, nein zu sagen.
Wie klingt diese alttestamentliche Geschichte vor dem Hintergrund der Forum-Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche? Wie klingt diese Geschichte angesichts der aktuellen Diskussionen über die Legalisierung von Leihmutterschaft in unserem Land? Fakt ist, dass die Position der Sklavin Hagar ausgenutzt wird. Ihre Rechtlosigkeit geht soweit, dass sie noch nicht einmal über ihre eigene Mutterschaft entscheiden darf. Sie wird dazu gezwungen.
In Deutschland ist Leihmutterschaft verboten, in vielen anderen Ländern dieser Erde nicht. Wenn man sich mit diesem Thema etwas intensiver beschäftigt, wird man immer wieder mit Darstellungen konfrontiert, in denen beteuert wird, dass die Leihmütter sich natürlich ohne jeden Zwang dafür entscheiden, ein Kind für ein anderes Paar auszutragen. Ich glaube schon, dass niemand mit vorgehaltener Pistole vor diesen Frauen steht. Aber ist nicht bereits das Ausnutzen eines wirtschaftlichen Gefälles eine Art von Zwang?
Gerade in Schwellen- und Entwicklungsländern, in denen viel Armut herrscht, wird Leihmutterschaft verstärkt und in hohem Maße kommerzialisiert angeboten. Es gibt dort Kliniken, die sich ausschließlich darauf spezialisiert haben und über das Internet Komplettpakete anbieten – vom Katalog mit detaillierten Beschreibungen der Eizellenspenderinnen über die Erledigung bürokratischer Anforderungen bis hin zum abholbereiten Baby.
Nach regionalen Maßstäben bekommen die Leihmütter viel Geld dafür, dass sie ihren Körper zur Verfügung stellen. Doch wie viele es aus wirtschaftlicher Not tun, erfährt man nicht. Wie hoch die gesundheitlichen Risiken durch die erforderlichen Hormonbehandlungen und die eigentliche Schwangerschaft sind, bleibt im Dunkeln. Und welche Traumata diese Frauen erleiden, wenn ihnen das Kind, dass neun Monate in ihrem Bauch herangewachsen ist, weggenommen wird, interessiert oft niemanden.
Bei uns in Deutschland werden, wie gesagt, Diskussionen geführt, Leihmutterschaft unter bestimmten Voraussetzungen zu erlauben. Ich hoffe sehr, dass man dabei von den beteiligten Menschen her denkt – von den kinderlosen Paaren aber eben insbesondere auch von den potentiellen Leihmüttern und den von ihnen geborenen Kindern.
Die Leihmutterschaftsgeschichte von Hagar, Sarai und Abraham ist auch eine Geschichte über sexualisierte Gewalt und damit eine Leidensgeschichte. Das sollte man bei allen Diskussionen nicht aus dem Blick verlieren. Amen.

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  Nicht einknicken!

Nicht einknicken!

Heiko Frubrich, Prädikant - 17.04.2024

Kirche muss zu den Menschen, denn Gottes frohe Botschaft muss unters Volk. Das kann auf ganz unterschiedliche Arten und Weisen passieren – ganz klassisch durch Gottesdienste, digital über die Homepage oder Social-Media-Auftritte oder auch durch Aushänge im guten alten Schaukasten. Genau das hat die St. Michaelisgemeinde gemacht. Die schöne mittelalterliche Kirche steht am westlichen Rad der Braunschweiger Innenstadt, doch das Einzugsgebiet reicht deutlich weiter und umfasst auch den Bereich rund um den Frankfurter Platz. Dort droht, ausgehend von einem Tattoo-Studio ein Nazi-Kiez zu entstehen. Die Anwohner sind besorgt, es kam bereits zu Einschüchterungsversuchen und Bedrohungen mit Baseballschlägern; Methoden, die aus dem rechten Milieu sehr bekannt sind.
An diesem Frankfurter Platz hängt nun ein Schaukasten der St. Michaelis-Gemeinde, in dem die Gemeinde folgendes Statement ausgehängt hat:
„Unser Kreuz hat keine Haken. Wir wollen Herz statt Hetze. Herkunft kann man sich nicht aussuchen, Heimat schon. Wir glauben, dass Falafel gut zu Sauerkraut passt und es sich miteinander schöner leben lässt als gegeneinander. Unser Horizont ist weit wie der Himmel überm Ostseestrand. Regenbogen inklusive. Demokratie heißt, das Wohl aller zu wollen und dabei manchmal auch unterschiedlicher Meinung zu sein. Rassismus ist keine Meinung. #wirsindmehr“
Diese offene Haltung, die einlädt und nicht ausgrenzt, die integriert und nicht diskriminiert, die den Menschen in den Blick nimmt, egal, woher er kommt, egal, welche Hautfarbe er hat, egal, welchen Bildungsgrad, egal, welche sexuelle Orientierung, diese offene Haltung passt manchen nicht in den Kram. Und die Hemmungen, diese Ablehnung nicht nur in Worten, sondern auch in Taten zu äußern, nehmen immer weiter ab und machen auch vor kirchlichen Einrichtungen nicht mehr halt.
Diese sich radikalisierende Stimmung wird aus rechten Kreisen ganz bewusst geschürt. Das Ziel ist, was man früher nur denken konnte, heute auch sagbar zu machen und was man früher nur sagen konnte, heute auch umsetzbar werden zu lassen. Und so werden rechte Hassparolen immer salonfähiger und rechtsextreme und verfassungsfeindliche Politiker werden in Talkshows eingeladen, als gäbe es nichts, was normaler ist.
Die St. Michaelis-Gemeinde hat den Schaukasten bereits gereinigt und wird sich nicht von ihrem Kurs abbringen lassen. Gut so! Kirche muss Rückgrat zeigen und darf nicht einknicken vor denen, die die Gottgleichheit eines jeden Menschen in Frage stellen und der Welt weismachen wollen, dass manche Menschen wertvoller sind als andere. Gottes Geist ist ein Geist der Freiheit, des Friedens und der Liebe. Alles andere ist mit Jesu Botschaft nicht vereinbar und es ist Aufgabe von uns Christenmenschen, der Welt das zu sagen. Amen.

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  Mauern

Mauern

Heiko Frubrich, Prädikant - 15.04.2024

Gestern haben wir hier im Dom Konfirmation gefeiert. Zwölf junge Menschen haben sich eindrucksvoll zu Gott bekannt und durch das erneute Entzünden ihrer Taufkerzen an der Osterkerze ihre Taufe bestätigt. „Ja, ich bin bereit!“, haben sie auf die Frage geantwortet, ob sie Gott, seinem Wort und seiner Botschaft Raum im eigenen Leben einräumen wollen.
Im Rüstgottesdienst am Samstagabend hatten die Konfirmandinnen und Konfirmanden ihre Konfirmationssprüche vorgestellt und vor der Gemeinde erläutert, warum sie sich gerade für dieses spezielle Bibelwort entschieden hatten. Und es war beeindruckend und bewegend zu hören, welchen Tiefgang diese ganz persönlichen Glaubensbekenntnisse hatten.
Einer der Konfirmanden, der dauerhaft im Rollstuhl sitzt, hatte ein Wort aus dem 18. Psalm gewählt. Dort heißt es in Vers 30: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“ Und er sagte, dass ihm Gott dabei hilft, die Grenzen zu überwinden, die er alleine nicht überwinden kann.
Was für ein Statement von diesem jungen Menschen! Und wie sehr er uns allen damit auch ein Beispiel gibt, was Gottvertrauen bedeutet. Wir sind in so vielem begrenzt. Und damit meine ich nicht nur unsere ganz unterschiedlich ausgeprägte physische Begrenztheit, wenn es darum geht über mehr oder weniger hohe Mauern aus Beton und Stein zu springen.
Es gibt so vieles, das unser Leben belastet – die ganz persönlichen Sorgen, Nöten und Ängste genauso, wie das Leid anderer. Und gerade davon gibt es in unseren Tagen so viel und es ist oft so unsinnig und vermeidbar. All das macht uns betroffen, nimmt uns Lebensfreude und verstärkt vielleicht auch unsere Glaubenszweifel.
Aus all dem will uns Gott heraushelfen. Er ist an unserer Seite und verspricht, uns zu begleiten, ganz egal, was auch kommen mag. Diese Gewissheit soll uns nun nicht gleichgültig werden lassen gegenüber allem anderen und insbesondere nicht gegenüber der Not unserer Mitmenschen. Aber es kann unseren Blick weiten, uns wieder Raum geben, tief durchzuatmen in der Gewissheit, dass Gott da ist und es am Ende gutmachen wird.
So können auch wir über die Mauern springen, die unsere Gedanken, unseren Blick, unsere Gefühle und auch unseren Glauben begrenzen. So stellt Gott unsere Füße wieder auf weiten Raum und lässt uns erfahren und erleben, welche wunderbare Freiheit er uns damit schenkt. Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen. Und Sie können das auch! Amen.

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  Osterglocken

Osterglocken

Heiko Frubrich, Prädikant - 13.04.2024

Mögen Sie Osterglocken? Ich bin ein großer Fan! Für mich ist es jedes Mal wieder bewegend, wenn es soweit ist. Sie lösen eine ziemlich karge Zeit ab und haben deshalb etwas so wunderbar Befreiendes. Streng genommen gibt es sie ja fast das ganze Jahr über. Doch zu Ostern sind sie dann eben doch besonders kraftvoll und hoffnungsstiftend. Osterglocken sind einfach toll!
Sie ahnen möglicherweise bereits, dass ich nicht über die gelben Blumen rede, die man auch Narzissen nennt. Ich meine die 12 Osterglocken, die in unserem Glockenhaus zwischen den Domtürmen hängen und die in der Nacht von Karsamstag zu Ostersonntag Jesu Auferstehung verkünden – mit feierlichem, kräftigem und langanhaltendem Geläut hinein in die nächtliche Stille der Stadt.
Glocken sind aus dem christlichen Leben und vor allem der christlichen Liturgie nicht mehr wegzudenken. Doch sie sind weit älter. Bereits in vorchristlicher Zeit wird aus China über die Verwendung von Glocken berichtet. Um 250 n. Chr. tauchen dann erstmals auch christlich verwendete Glocken auf.
Doch auch im weltlichen Bereich hatten und haben Glocken ihre Bedeutung. Früher meldeten sie Gefahren wie Angreifer oder Feuer, noch heute informierten darüber, dass jemand aus der Gemeinde verstorben ist und sie teilen uns im wahrsten Sinne des Wortes mit, was die Stunde geschlagen hat.
Von einem solchen Stundenschlag hat sich auch Louis Vierne für seine Komposition „Carillon de Westminster“ inspirieren lassen, die uns Hans-Dieter Meyer Moortgat gleich spielen wird. 1927 wurde das Stück in Notre Dame in Paris uraufgeführt. Die Glocken, die im Londoner Elisabethturm hängen, der auch die große Glocke „Big Ben“ beherbergt, schlagen wohl die weltweit bekannteste Glockenmelodie. Sie werden sie ganz sicher sofort erkennen.
Und es gibt sogar einen Text, der sich dazu singen lässt: „O Lord our God, Be Thou our guide, That by Thy help, No foot may slide.” O Herr, unser Gott, sei du unser Begleiter, das mit deiner Hilfe, kein Fuß ausgleiten möge. Das knüpft nun wieder wunderbar an die Osterglocken an. Denn der Auferstandene, dessen Sieg über den Tod wir zu Ostern feiern, hat uns versprochen: Und siehe, ich bin bei euch bis an der Welt Ende.
Und genau deshalb bin ich so ein großer Fan von Osterglocken – von den gelben, doch noch viel mehr von den klingenden. Amen.

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  Willkürliche Gnade?

Willkürliche Gnade?

Heiko Frubrich, Prädikant - 12.04.2024

Ohne Fließ kein Preis – ein altes Sprichwort, das uns auffordert, Gas zu geben, wenn wir uns ein bestimmtes Ziel gesetzt haben. Als kleine Steigerung zu diesem Sprichwort passen Sätze wie: „Nun reiß dich mal zusammen“, oder „nun stell dich mal nicht so an“. Wenn man was erreichen will, wenn man Ambitionen hat, dann geht es eben manchmal nicht ohne Blut und Schweiß und Tränen.
Mir ist das ein wenig zu holzschnittartig und ich denke, dass es auch andere Wege gibt, sich selbst oder seine Mitmenschen zu motivieren. Aber das ist vielleicht auch Geschmacksache und hängt von der eigenen Persönlichkeit ab. Ich denke, dass jede und jeder seinen eigenen Weg finden muss – als Motivator genauso wie als zu Motivierender. Fakt bleibt jedoch, dass es in unserem Leben immer wieder Situationen gibt, in denen wir uns anstrengen müssen.
Über dem heutigen Tag heißt es aus dem Römerbrief: „So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.“ Das ist ja nun das absolute Gegenmodell zu „Ohne Fleiß kein Preis“. Der Apostel Paulus sagt hier, dass wir uns gerne ein Bein ausreißen können, und wenn wir wollen, das andere gleich mit, doch es bleibt allein Gottes Entscheidung, wem er seine Gnade zuteilwerden lässt und wem nicht. Schon zu Mose hat er gesagt: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“
Wenn man was zum Nörgeln finden möchte, könnte man sagen: Das ist ja die totale Willkür. Gott handelt hier nach Gutsherrenart und das kann es ja wohl nicht sein! Naja, das kann es eben doch sein. Gott ist uns bleibt die höchste Instanz und er ist und bleibt frei in seinen Entscheidungen.
Doch die Kernbotschaft des Pauluswortes ist doch eine ganz andere. Sie lautet doch: Mach dich nicht verrückt! Gott sieht dich und kennt dich und er nimmt dich an, so wie du bist. Nicht jene, die eine religiöse Höchstleistung nach der anderen vollbringen stehen in seiner Gunst ganz oben, nicht jene, die besonders viel Kirchensteuer zahlen, nicht jene, die bei jeder Unterhaltung mindestens drei Bibelzitate unterbringen. Nein, es sind jene, denen sich Gott erbarmt. Ende der Durchsage.
Und das heißt nun konkret? Wir haben Ostern im Rücken und der auferstandene Jesus Christus beauftragt seine Jünger, alle Völker ebenfalls zu Jüngerinnen und Jüngern zu machen. Die Taufe ist der Schlüssel. Durch sie werden wir hineingenommen in den Kreis derer, zu denen Gott „Ja!“ sagt. Es bedarf unsererseits nur des Bekenntnisses: Ja, ich will dazugehören! Und weil man bei der Taufe altersbedingt diesen Satz häufig noch nicht so sagen kann, feiern wir Konfirmation, das Fest, in dem junge Menschen das Ja, das ihre Eltern und Paten für sie gesprochen haben, aus eigenem Antrieb bestätigen. Übermorgen ist es hier bei uns im Dom wieder soweit. Wir freuen uns drauf! Amen.

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  Gottes Barmherzigkeit

Gottes Barmherzigkeit

Heiko Frubrich, Prädikant - 11.04.2024

Heute ist im evangelischen Namenskalender Matthäus Apelt zu finden, der nach seiner Erhebung in den Adelsstand den klangvollen Namen Matthäus Apelles von Löwenstern trug. Er war ein deutscher evangelischer Komponist und Kirchenliederdichter, der am 11. April 1648 in Breslau im Alter von 54 Jahren verstarb. Vielleicht sind Sie beim Blättern in unserem Gesangbuch auf ihn aufmerksam geworden, denn von ihm stammt unter anderem der Choral „Nun preiset alle Gottes Barmherzigkeit“.
Man findet ihn unter der Nummer EG 502 in der Rubrik „Natur und Jahreszeiten“, was dem Choral zwar nicht schadet, irgendwie aber dennoch nicht passt. Denn es ist ein großer und fröhlicher Lobgesang mit einer eingängigen Melodie und einem flotten Rhythmus.
Apelt beschreibt den Reichtum, den wir von Gott erhalten und die Art, wie er mit uns umgeht. „Er lässt dich freundlich zu sich laden“, heißt es da in der ersten Strophe. Und so ist es ja auch. Gott drängt sich uns nicht auf. Er droht uns nicht und er zwingt uns auch nicht in seine Nähe. In seinem Sohn, der allen Mühseligen und Beladenen anbietet, sie zu erquicken, sie wieder aufzurichten und ihnen neue Kraft zu geben, steht Gott mit offenen Armen vor uns.
Und er zeigt uns auf, wie er uns und unser Leben zum Besseren verändern kann, wenn wir ihm einen Platz darin einräumen, wenn wir aus eigenem Antrieb sagen: Ja, ein Leben mit dir ist schöner und reicher als eines ohne dich.
„Wohlauf ihr Heiden, lasset das Trauern sein.“ Ich denke, dass Apelt hier das Trauern über verpasste Chancen meint, das Trauern über die eigene Schuld, die man im Laufe seines Lebens auf sich lädt – bewusst und unbewusst, vorsätzlich oder auch gänzlich ungeplant. Es ist nie zu spät, mit diesem Paket auf den Schultern umzukehren. „Zur grünen Weide stellet euch willig ein“, dichtet Apelt. „Denn da lässt uns Gott sein Wort verkünden und macht uns ledig und frei von allen Sünden.“
Ich denke, dass Gottes Vergebungsbereitschaft zu seinen herausragendsten Eigenschaften gehört. Egal, wie groß der Mist auch sein mag, den wir gebaut haben, Gott wird uns damit nicht abweisen. Wenn wir ihm gegenüber ehrlich bekennen, dass es uns leidtut, wird er uns aus Barmherzigkeit vergeben. Wir Menschen tun uns damit oftmals deutlich schwerer.
„Drum preis und ehre Gottes Barmherzig“, schreibt Apelt. „Viel tausend Engel um ihn schweben, Psalter und Harfe ihm Ehre geben.“ Psalter und Harfe haben wir heute nicht parat. Aber Orgel und Gesang ist ja auch ganz schön. Amen.

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  Zwei Arten von Frieden?

Zwei Arten von Frieden?

Heiko Frubrich, Prädikant - 10.04.2024

„Frieden lasse ich euch. Meinen Frieden gebe ich euch. Doch ich gebe nicht, wie die Welt gibt.“ Das sagt Jesus zu seinen Jüngern, wie uns der Evangelist Johannes berichtet. Was ist das für ein merkwürdiger Satz? Jesus unterscheidet darin ganz klar zwischen dem einen Frieden, den er den Jüngern lässt und dem anderen, seinem Frieden, den er ihnen gibt.
Es ist in der Tat nicht leicht, umfassend zu beschreiben, was Frieden bedeutet. Ein Blick in diese Welt legt nahe, zu sagen, das Frieden das Gegenteil von Krieg ist. Wir würden uns alle unendlich freuen, wenn in der Ukraine oder im Nahen Osten die Waffen endlich schwiegen. Ja, dann wären die Kriege vorüber und es könnte Frieden einziehen.
Aber ist das dann wirklich schon Frieden, wenn die Menschen vor den Trümmern ihrer Existenzen stehen, den zerstörten Dörfern und Städten und den untergegangenen Zukunftsplänen? Und vor allem: Ist es wirklich Frieden, mit Blick auf die vielen verlorenen Menschen, die ums Leben gekommen sind? Der Krieg mag zu Ende sein, doch Schmerz und Trauer dauern an. Ist Frieden so möglich?
Und mehr noch: Ich denke nicht, dass mit dem letzten Schuss auch die Wut und der Hass beendet sein werden, dass die Feindbilder verschwinden und ersetzt werden durch Freundschaft und Vertrauen. Dafür bedarf es viel mehr als nur des Endes von militärischen Aktivitäten.
Der Friede, den Jesus verspricht, hat eine andere Qualität und eine andere Dimension. Ich verstehe ihn als den Frieden, den wir mit Gott haben können. Wenn Christus sagt, dass er uns diesen Frieden gibt, dann meint das, dass er in seinem Tod und seiner Auferstehung alles aus dem Weg räumt, was uns von Gott trennt, all das, was wir Sünde nennen. Christi Frieden meint unser Leben in einer lebendigen Beziehung mit dem Auferstandenen an unserer Seite und unter Gottes Obhut und Gnade.
In einer solchen Beziehung dürfen wir uns behütet und getragen fühlen, von Gott gewollt und angenommen. So sehr und so berechtigt wir natürlich für irdischen Frieden beten und arbeiten sollen, so klar ist aber auch, dass der Frieden, den Christus uns schenkt, immer stärker ist als das, was uns an irdischem Leid bedrohen und betreffen kann.
Christi Auferstehung ist der Schlüssel zu diesem Frieden. Wie gut, dass Gott uns den Ostermorgen geschenkt hat. Amen.

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  Erbe umverteilt

Erbe umverteilt

Henning Böger, Pfarrer - 10.04.2024

Marlene ist 31 Jahre alt und reiche Erbin. Die Salzburgerin hat eine ungewöhnliche Idee: Sie will ihr Erbe verschenken. Sie sagt, sie habe das Geld in einer Art „Geburtslotterie“ gewonnen. Sie habe einfach Glück gehabt, dass ihre Großmutter ihr so viel Geld übertragen habe. Und das sei ungerecht gegenüber den Menschen, die dieses Glück nicht hatten. Sie selbst wolle und brauche so viel Geld nicht. Darum will sie ihr Erbe,
25 Millionen Euro, verschenken.
Aber wie verteilt man 25 Millionen Euro gerecht? Auch dazu hatte Marlene eine Idee: Kurz vor Ostern trafen sich 50 repräsentativ ausgewählte Menschen. Diese Gruppe soll einen „Guten Rat für Rückverteilung“ bilden und entscheiden, wie und an wen das Geld zurückverteilt wird. Marlene wird daran nicht beteiligt sein. Es gebe nur ein Kriterium für diesen „Guten Rat“ sagt sie: die soziale Gerechtigkeit. Sie selber, sagt Marlene, werde nie arm sein, auch wenn ihr Vermögen verteilt ist. Etwas Geld wolle sie behalten, bis sie ihr Studium beendet habe. Ansonsten freue sie sich, wenn gelöst sei, was sie sich schon lange wünsche: mehr Gerechtigkeit durch Umverteilung.
Menschen können nichts für ihren Reichtum, in den sie hineingeboren werden. Und andere können nichts für ihre Armut, die sie ererbt haben, ohne sich daraus befreien
zu können. Was uns alle angeht - die Reichen, die Armen und uns viele dazwischen –
ist die Frage, was wir gemeinsam tun können, damit die sprichwörtliche soziale Schere zwischen Arm und Reich nicht immer weiter auseinandergeht.
Dazu hilft eine kleine Jesus-Erinnerung: Der hatte nichts gegen Reiche. Er sprach mit ihnen und ließ sich gerne zum Essen in ihre Häuser einladen. Was ihn allerdings störte, war vermögende Gedankenlosigkeit. Denn Jesus sah Reichtum als Gnade und Verpflichtung an. Darum fragte er: „Wem verdankt ihr, dass es euch gut geht?“
Jesus gelang es so, Menschen nachdenklich zu machen, soziale Ungleichheit als Anfrage zu begreifen. Manche teilten ihren Besitz.
Wie Marlene, die reiche Erbin aus Salzburg. Gerade hat sie dem Magazin „Der Spiegel“ ein Interview gegeben. Auf Bildern sieht sie dabei entspannt aus. So, als wüsste sie,
was Jesus wusste: Jedes Teilen macht immer zwei Menschen reich: Geber und Empfänger. So leuchtet das Reich Gottes unter uns auf.

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  Ostereier

Ostereier

Heiko Frubrich, Prädikant - 08.04.2024

Ostereier
Auch auf die Gefahr hin, dass ich jetzt bei Ihnen in ein schlechtes Licht gerate: Ich habe heute Morgen bei mir zu Hause hinter dem Fernsehschrank noch eine einsame Tannennadel gefunden. Die muss dort gelandet sein, als der Weihnachtsbaum im Januar wieder ausziehen musste und bei dieser Aktion die eine oder andere Nadel verloren hat. Die Dauer unserer Gastfreundschaft für Nadelgehölze in der heimischen Wohnung lässt sich relativ treffsicher beschreiben. Sie beginnt wenige Tage vor dem Weihnachtsfest und endet bei vielen am 6. Januar oder zum Ende der kirchenkalendarischen Weihnachtszeit am letzten Sonntag nach Epiphanias.
Aber wie ist das eigentlich mit dem Schmuck zu Ostern? Zu nennen ist da in erster Linie das bunte Ei, das uns meist in der Plastikversion in Vorgärten und Wohnstuben an Ostern erinnert. Und tatsächlich ist es seit vielen Jahrhunderten auch fester Bestandteil der christlichen Ostertradition. Schon im 12. Jahrhundert wurde in der katholischen Kirche die österliche „Benedictio ovorum“ die Segnung von Eiern und Osterspeisen eingeführt.
Aber wie ist das in unserer Zeit? Mir fällt immer wieder auf, dass uns die Ostersträuße schon Wochen vor Ostern in bunten Farben entgegenleuchten. Da sind wir aber noch mitten in der Passionszeit. Und jetzt verschwindet der bunte Schmuck schon wieder und bereits am Osterdienstag konnte man in den Supermärkten nicht verkaufte Schokoladenosterhasen zum halben Preis kaufen, so, als sei Ostern bereits Geschichte.
Doch das Gegenteil ist der Fall. Ostern hat gerade erst angefangen. Und die österliche Freudenzeit, in der wir unsere Akkus mit Lebens- und Glaubensfreude aufladen können, sie dauert 50 Tage, also noch bis Pfingsten. Damit ist sie im Übrigen länger als der Weihnachtsfestkreis, was ich persönlich gut nachvollziehen kann. Sicher, ohne Weihnachten hätten wir kein Ostern. Aber ohne Ostern gäbe es keine Sündenvergebung, kein ewiges Leben und keinen neuen Bund, den Gott mit uns Menschen eingegangen ist.
Und auch unser irdisches Leben wäre so viel ärmer. Wir dürfen es in der Gewissheit leben, dass der auferstandene Jesus Christus in allem, was uns passiert, an unserer Seite ist. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende, so hat er es versprochen. Und das meint: in guten, wie in schweren Zeiten, in Fröhlichkeit und Trauer, in Glück und im Leid.
Das ist der beste Grund für große Freude und wenn Sie die bunten Ostereier schon eingemottet haben sollten: Hängen Sie sie nochmal auf, damit die Freude bunt wird. Denn der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden. Halleluja! Amen.

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  Sag mir wo...

Sag mir wo...

Cornelia Götz, Dompredigerin - 05.04.2024

Seit Gründonnerstag trage ich Marlene Dietrichs Antikriegslied „Sag mir, wo die Blumen sind“ mit mir herum. Zunächst stieg es wohl als Assoziation zur Kerzenmeditation am Gründonnerstag auf. Nach und nach erlöschen dann die zwölf Kerzen, die für die zwölf Jünger Jesu im Garten Gethsemane stehen – oder eben für zwölf Menschen, die Hoffnung auf ihn gesetzt haben.
Bis nur noch die Osterkerze brennt.
„Bleibet hier und wachet mit mir“ heißt die Liedstrophe dazu.
Und ich habe in Gedanken gewendet: es gibt so vieles und so viele, die im Laufe eines Lebens verloren gehen, verlöschen. Erst recht in Kriegszeiten.
Und wir hier?
Wir feiern Ostern und versuchen zu verstehen.
Und zwischendrin dieser Ohrwurm:
„Sag mir wo die Blumen sind / wo sind sie geblieben / was ist geschehen? Sag mir wo die Blumen sind / Mädchen pflückten sie geschwind / Wann wird man je verstehen / wann wird man je verstehen?
Sag mir wo die Mädchen sind / Männer nahmen sie geschwind …
Sag mir wo die Männer sind / zogen fort der Krieg beginnt …
Sag wo die Soldaten sind / über Gräben weht der Wind
Sag mir wo die Gräber sind / Blumen wehen im Sommerwind
Wann wird man je verstehen? / Wann wird man je verstehen?“
Marlene Dietrich machte diese deutsche Version von „Where Have All The Flowers Gone“ während der Kubakrise 1962 berühmt. Jetzt erinnert man sich wieder, dass das Lied eigentlich ukrainische und russische Wurzeln hat.
Man sang es beim Zerkleinern von Mohn auf ukrainischen und südrussischen Feldern. In dem Roman „Der stille Don“ klingt es so: „Und wo sind die Gänse? Sie liefen ins Schilf. / Und wo ist das Schilf hin? Von Mädchen gemäht. / Und wo sind die Mädchen? / Verheiratet längst. Und wo die Kosaken? Sind fort in den Krieg…“
Wann wird man je verstehen. Man versteht es nicht. Immer wieder nicht…
Inzwischen haben wir Ostern gefeiert und ich schaue staunend auf das kleine Lied: Auch die Gräber sind verschwunden. Blumen wehen im Wind. Mädchen werden kommen und sie pflücken.
Das Leben geht weiter. Das Leben siegt. Vielleicht siegt eines Tages sogar der Frieden.

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  A wie Abel

A wie Abel

Cornelia Götz, Dompredigerin - 04.04.2024

A wie Abel.
Er ist Evas Zweitgeborener, der Kleine. So scheint es auch sein Name zu sagen: Der „Hauch“, womöglich sogar: „Nichtigkeit.“
„Kain“ dagegen, sein Bruder, wurde von seiner Mutter Eva mit den Worten begrüßt: „Ich habe einen Mann gewonnen“.
So ungleich kann es beginnen.
Unbeabsichtigt oder immer schon.
Der eine ein zugewinn- der andere ein Hauch, ein Nichts.
Was ist er Mensch, dass du seiner gedenkst?
Abel wird Schäfer. Er lebt mit seinen Tieren und hütet sie.
Sein Bruder ist ein Ackermann. Fest verwurzelt.
Kain bewegt sich. Leise zieht er über die Landschaft. Ein Hauch.
Vielleicht ist ihm die eigene „Nichtigkeit“ nicht bewusst; vielleicht hat er längst verstanden, dass ein Menschenleben nicht mehr und nicht weniger ist als ein Hauch in Gottes langem Atem.
Er opfert Gott von den Erstlingen seiner Herde und seinem Fett. Und Gott – so heißt es: „Sieht sein Opfer gnädig an“.
So hat für Abel alles seine Ordnung. Aber er ist nicht allein auf der Welt.
Denn sein Bruder opfert und das sieht Gott nicht. So jedenfalls scheint es.
Kain wird zornig. Das tut ihm weh. Das ist ungerecht.
Es müsste ihn nicht jucken. Kain ist nur ein Nichts.
Es müsste ihm zusetzen. Gott sieht sein Opfer nicht – das hat womöglich gar nichts mit Abel zu tun.
Und trotzdem setzt sich eine Gewaltspirale in Gang.
Zorn und Schweigen. Mord.
Ist Neid die Wurzel allen Übels?
Paul Gerhard dichtete 1666:
„Lass mich mit Freuden / ohn alles Neiden / sehen den Segen / den du wirst legen / in meines Bruders und Nächsten Haus.“
Das fällt nicht immer leicht.
Dessen muss man gewärtig sein
Darum muss man bitten.
Die uralte Geschichte wäre vielleicht anders ausgegangen, wenn Kain das gekonnt hätte. So bleibt sie ein Dorn, der schmerzt – kein Hauch.

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  Hoffnung

Hoffnung

Heiko Frubrich, Prädikant - 03.04.2024

Hoffnung
Wenn die Sonne scheint, sieht man besonders deutlich, dass die Fensterscheiben dreckig sind und nur wenn es hell ist, erkennen wir auch Schattenseiten. Das gilt im direkten und im übertragenen Sinne. Wir werden durch das Licht der Medien auf vieles aufmerksam gemacht. So auch jetzt darauf, dass am Montag bei einem israelischen Angriff auf einen Hilfskonvoi im Gazastreifen sieben internationale Helfer ums Leben gekommen sind. Es ist schwer auszuhalten, wenn man sieht, dass Menschen, die in humanitärer Absicht anderen helfen wollen, die sich angetrieben von Nächstenliebe engagieren, vermeidbar ihr Leben verlieren.
Mit dem Tod dieser sieben Menschen wird unsere Aufmerksamkeit auf eine weitere hässliche Fratze des Krieges gezogen. Doch es ist nicht die einzige, sondern eben eine weitere Fratze. Die Zahl der getöteten Zivilisten lässt sich allein in diesem Krieg mittlerweile in Tausenden zählen. Und der Nahe Osten ist nur ein Kriegsschauplatz von vielen auf dieser Welt. Es gibt zynisch anmutende Statistiken im Internet, in denen Kriege und kriegerische Auseinandersetzungen in Tabellenform aufgelistet und gruppiert werden. Da schafft es dann ein Krieg in diese Tabelle, wenn er mindestens 1000 Menschen das Leben gekostet hat. Und wenn die Zahl der Toten dann 10.000 überschreitet, erfolgt die Aufnahme in eine detailliertere Darstellung mit weitergehenden Informationen.
Je größer die Zahlen, desto mehr verschwindet der einzelne Mensch in der statistischen Anonymität. Bei den sieben getöteten Helfern können wir unsere Betroffenheit leichter spüren, wir können näher an sie heran, wenn wir ihre Lebensläufe lesen, ein wenig mehr verstehen, wer sie waren und was sie zur Hilfe motiviert hat. Wir können aus Presse, Fernsehen und Internet wissen, wer um sie trauert.
Aus den Kriegstabellen erfahren wir nichts. Und doch stehen auch dort hinter den Zahlen Menschen – Kinder, Frauen, Männer, Mütter, Großväter, Säuglinge, Junge, Alte, Fröhliche, Traurige, Verliebte, Einsame. Und die meisten von ihnen wollten keinen Krieg.
Wir haben Ostern im Rücken, das Fest der Zuversicht und des Lebens. Ihm vorausgegangen ist eine Zeit, in der wir uns daran erinnert haben, dass menschliche Grausamkeit selbst vor Gottes Sohn nicht haltgemacht hat. Gottes unbedingte Liebe, die an Ostern sichtbar und erlebbar wird, sie hat es immer wieder schwer, sich durchzusetzen. Oft verliert sie gegen menschliche Anmaßung, menschlichen Größenwahn und mangelnde Achtung vor dem Leben.
Über dem heutigen Tag heißt es aus der Offenbarung des Johannes: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ Darauf dürfen wir trotz allem unsere Hoffnung setzen und darauf, dass der auferstandene Christus zu seinem Wort steht, wenn er sagt: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Amen

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  Osterjubel

Osterjubel

Henning Böger, Pfarrer - 02.04.2024

Ja, sagt er, und blickt dabei fröhlich in die Handy-Kamera der jungen Frau, die ihn mit seinem Einverständnis filmt. Ja, manchmal tue er das: Da fange er mitten auf der Straße an zu singen. Genauer: Er singe sich auf der Straße erst noch etwas ein, bevor er ins Pflegeheim gehe. Dort lebt seine Ehefrau, die dementiell erkrankt ist.
Wann immer es geht, besucht er sie und singt dann - in ihrem Zimmer, auf dem Flur des Wohnbereiches, manchmal auch auf anderen Fluren. Er hat dafür eine kleine Box gekauft, die er sich umhängen kann und aus der Klavierbegleitung erklingt.
Während er das alles der jungen Frau für ihr Video erzählt, drückt er auf ein Knöpfchen an der Box, das Klavier spielt ein paar Takte und dann beginnt er zu singen: „My Way“ von Frank Sinatra. Man kann hören, wie geübt der Mann ist. Er hat sich im hohen Alter einen frischen Bariton bewahrt. Nach einigen Zeilen hört er aber auf, schaltet die Box aus und verabschiedet sich: „Ich muss jetzt los!“ Und er geht hinüber ins Pflegeheim, wo seine Frau lebt.
Es ist eine kleine, berührende Szene, finde ich, die sich online über Instagram rasch verbreitet hat: Ein Mann singt für seine demente Frau. Er möchte ihr, deren Gedächtnis nicht mehr so gut ist, gemeinsame Melodien in Erinnerung bringen. Lieder behält man lange im Sinn. Er singt auch für sich selbst: gegen das Vergessen, in der Hoffnung darauf, dass es irgendwo in ihr summt und klingt und so ein wenig Erinnerung an das gemeinsame Leben zurückbringt.
Wer in unseren Kirchen den Gottesdiensten durch die Karwoche bis zum Ostermorgen gefolgt ist, hat das selbst erleben können: wie groß die Kraft der Musik ist, wie der gemeinsame Gesang das Geschehen prägt, ernster und weniger wird, bis er ganz verstummt, um dann am Morgen des dritten Tages als Osterjubel neu anzuheben über das Leben, das aus Gottes Liebe stärker als der Tod ist.
Überall dort, wo das, was in uns Menschen wie begraben scheint, aufbricht und neue Kraft erhält, da wächst die Osterhoffnung aus dem Gestern ins Heute für morgen.
Denn dazu ist Christus auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden. Halleluja!

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  Von Ferne

Von Ferne

Cornelia Götz, Dompredigerin - 30.03.2024

Karsamstag.
Da stehen sie von Ferne und schauen nach dem Hügel, auf dem die Kreuze stehen. Es ist still geworden. Unheimlich still.
Es sind seine Freunde und Wegbegleiter, Menschen, die auf ihn gehofft und an ihn geglaubt haben, die ihn liebten und solche, die sich nicht in seine Nähe getraut haben.
Es sind Menschen, die Konsequenzen fürchten, wenn man sie als zugehörig erkennt und solche, die sich in ihrer Resignation bestätigt fühlen.
Es sind Menschen, die noch nie auf der Straße waren.
Es sind solche wie wir.
Auch wir schauen von Ferne.
Traurig und erschrocken, ratlos, was das mit uns zu tun hat.
Es ist eine alte Geschichte, die immer wieder neu geschieht, wenn die Mächtigen Angst kriegen und die Machtlosen beginnen, sich selbst zu spüren, weil sie gesehen werden.
Es ist ein Ausdruck unbarmherzigster Gewalt.
Die Vielen - wie fern sie auch immer stehen, wie schweigsam sie nach Hause gehen, wie wenige Worte sie auch machen – haben ein gutes Gespür.
Sie verstehn, was sie sehen.
Da stirbt ein Mensch.
Unschuldig.
Unter uns.
Wir haben es nicht verhindern können.
„Aus den Pforten der Hölle, rette, o Herr, meine Seele.“ heißt es bei dem Propheten Jesaja.
Damit sie nicht verkümmert, verhärtet, gleichgültig wird.
Und dazu aus dem 88. Psalm: „Meine Seele ist übervoll an Leiden… - werden denn deine Wunder in der Finsternis erkannt?“
Finsternisse gibt es viele.
Sie rücken auf die Haut und ersticken das Augenlicht.
In der Finsternis saß auch Jona.
Drei Tage lang im Fischbauch.
Auch der hatte Abstand halten wollen.
Von Gottes Geschichte mit uns Menschen und davon, selbst darein verwickelt zu werden.
Auch der hatte Angst: vor den Vielen, vor der Einsamkeit, vor der Gleichgültigkeit. Vor der Überforderung und der Wirkung seiner Worte.
Drei Tage lang war das so.
Dann spie ihn der Fisch ans Land, ins Leben, in das was zu tun ist.
Dann ist die Stille vorüber.
Die Welt ist nur für einen Moment stehengeblieben.
Weil ein Unschuldiger gestorben ist.
Weil das der Plan war.

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  Johannespassion

Johannespassion

Cornelia Götz, Dompredigerin - 29.03.2024

Wann immer wir uns glaubend – hörend – singend – zweifeln – stotternd – mit der Geschichte Jesu verbinden, damit sie sich für uns jetzt -heute ereignet: wir hängen zwischen dem linearen Verlauf der Geschichte Gottes mit uns Menschen, dem Damals und dem ein für alle Mal, jetzt und für immer.
Darum ist das, was vor fast 2000 Jahren in Jerusalem geschah, an vergangenen Ort und Zeit gebunden – gehört in ein besetztes Land und zu konkreten Umständen: Hunger und Not, Anbiederung an die Mächtigen, Misstrauen zwischen oben und unten, Angst voreinander, Gewalt.
Darum ist das die dieselbe Geschichte, die heute unter den Umständen der Gegenwart geschieht.
Hier – wo wir besorgt sind und angefasst trotz Wohlstand und Frieden.
Dort – wo Menschen erschüttert sind und verstört, zu allem bereit und bodenlos verzweifelt, bar aller Geborgenheit und Zuversicht.
Golgatha erhebt sich über all dem - unerschütterlich.
Noch weichen Berge und Hügel nicht.
Er hängt da am Kreuz, nach Atem ringend weil sich sein Brustkorb nicht heben kann – ein weithin sichtbares Mahnmal dessen wie grausam Menschen zu Menschen sind.
Man kann es sehen – von Ferne oder direkt darunter stehen.
Man kann es übersehen, vergessen, verdrängen.
Aber es geschieht.
Jetzt.
Irgendwo teilen sich Soldaten seinen Besitz, plündern.
Während die einen sterben, schachern die anderen.
Sie sichten seine Kleider, für jeden findet sich etwas.
Sie betrachten das eine genauer: So was hat er besessen? Gewebt in einem Stück! Das ist nicht nur ein Meisterstück der Weberei. Solche Gewänder trugen hohe Priester – ob sie das bemerken?
Die Qualität der Beute lässt zögern. So fällt das Los, erfüllt sich prophetische Weissagung, schreibt Gott sich in die Geschichte auch hier ein, bleibt präsent, wie abgründig es auch zugeht.
„Das zwar“ schreibt der Evangelist Johannes, taten die Soldaten.
„Das zwar…“
Das tun die einen. Es ist völlig normal dort, wo Menschen gewaltsam sterben.
Das zwar – aber auch!
Auch Jesus hat noch etwas zu tun auf dieser Welt.
Auch er schaut auf das, was bleibt – auch er hat ein Vermächtnis.
Es erfüllt sich an denen, die bis zum Schluss mitgegangen sind:
Seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Kleophas und Maria Magdalena. Frauen sind es. Wie die Mutter von Alexei Nawalny oder Svetlana Tichanowskaja. Sie tragen eine Idee weiter. Sie werden später am Grab sein.
Sie überleben und halten das aus.
Und Johannes, der Jünger, den er liebte, war auch da.
Jesus sieht sie stehen. Ganz nah. Und verbindet sie:
Sieh doch! Dein Sohn! Deine Mutter!
Es ist das letzte Mal, dass er zeichenhaft in das Leben anderer eingreift. Es wird geschehen wie er gesagt hat.
Johannes nimmt Jesu Mutter zu sich.
Jesu Vermächtnis ist zutiefst solidarisch.
Lasst euch nicht allein!
Steht einander bei – gerade jetzt.
Es sind alle Preise gezahlt.
Es ist alles Schlimme passiert.
Es scheint zu Ende zu sein.
Und doch wird es Abend und Morgen – ein neuer Tag.
Für den brauchte es Fürsorge, einen Nächsten und ein Zuhause.
Sie mögen ihn ans Kreuz geschlagen haben. Sie können ihn nicht umbringen.


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  Was für ein Tag!

Was für ein Tag!

Heiko Frubrich, Prädikant - 28.03.2024

Was für ein Tag!
Was für ein Tag! Selten liegen die Gründe für große Freude und tiefe Dankbarkeit auf der einen und kaum auszuhaltende Spannung und schmerzhafte Enttäuschung auf der anderen Seite so dicht beieinander. Wir feiern heute, dass Jesus für uns im Abendmahl einen Begegnungsort gestiftet hat, an dem wir uns immer wieder seiner erinnern und seine Nähe in ganz besonderer Weise erleben können.
Alle hat er beim letzten Abendmahl, das er in seinem irdischen Leben gefeiert hat, willkommen geheißen – alle, selbst den, der ihn nur kurze Zeit später verraten sollte. Zum Brot des Lebens und zum Kelch des Heils sind alle eingeladen, die sich zu Christus bekennen, alle, die mühselig und beladen sind, alle, auch jene, die Vergebung suchen und neu anfangen wollen.
Als Jesus am Gründonnerstag in Jerusalem sagt, dass einer von den Zwölfen ihn verraten wird, sitzen sie alle gemeinsam zu Tisch. Und einer nach dem anderen fällt ist Selbstzweifel und einer nach dem anderen fragt: „Bin ich‘s?“ Welche Spannung mag dort geherrscht haben, wie viel Misstrauen wach und wie viel Angst spürbar geworden sein. Und die Erkenntnis, dass es Judas ist, wie viele Scherben aus zerbrochener Freundschaft und zerstörtem Vertrauen mag sie hinterlassen haben?
Und es ist noch nicht genug. Als Jesus am Abend im Garten Gethsemane Gott bittet, doch diesen Kelch an ihm vorübergehen zu lassen, da erleben wir ihn in der tiefsten Einsamkeit, die überhaupt vorstellbar ist. Denn seine Freunde, die er gebeten hat, mit ihm zu wachen und zu beten, sie schlafen ein. Und auf seine dreimal unter Tränen an Gott gerichtete Bitte, ihn zu verschonen, erntet er nur eisiges Schweigen.
Doch trotz all dieser Enttäuschungen vollzieht sich in Jesus eine wunderbare Wandlung. Denn als er vom Beten zurückkehrt und seine schlafenden Freunde findet, hat er neue Kraft gefunden. „Steht auf, lasst uns gehen!“ Das sagt er zu ihnen. Steht auf! Lasst eure Schwäche und Müdigkeit hinter euch und lasst uns weitergehen auf unseren Lebenswegen. Obwohl Gott auf Jesu Bitten vermeintlich nicht geantwortet hat, obwohl seine engsten Freunde ihn nicht unterstützt haben, hat Jesus neuen Mut und neues Gottvertrauen gefunden, sich zu unser aller Diener zu machen und sich für uns hinzugeben.
Und er lässt uns daran teilhaben. Denn was er seinen Jüngern sagt, das gilt auch uns. Steht auf! Amen.

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  Grenzwertig?

Grenzwertig?

Heiko Frubrich, Prädikant - 27.03.2024

Grenzwertig?
„Sehet, welch ein Mensch!“ Das ruft Pilatus aus, als er den gefolterten und mit Purpurmantel und Dornenkrone verhöhnten Jesus dem Volk präsentiert. Sehet, welch ein Mensch. Und, in der Tat, das war er auch, ein Mensch. Und ich finde, dass dies gerade in den letzten Tagen seines irdischen Lebens überdeutlich wird. Wenn man die Evangelien liest, dann wird Jesus über weite Strecken bei allem, was er sagt und tut, sachlich, besonnen und beinahe abgeklärt dargestellt. Ja, manchmal ist er leicht genervt vom Unverständnis seiner Gefolgsleute, doch das kommt sehr selten vor. Doch gleich nach seinem Einzug in Jerusalem am Palmsonntag erleben wir eine überraschende Wendung.
Jesus geht in den Tempel und räumt dort in einer Weise auf, die wir an ihm so noch nie gesehen haben. Er jagt die Händler mitsamt ihren Opfertieren auf die Straße und stößt die Tische der Geldwechsler um, an denen man die heimische Währung in die für die Bezahlung der Opfertiere vorgeschriebenen tyrischen Schekel umtauschen konnte. Wir erleben hier einen jesuanischen Wutausbruch, der seinesgleichen sucht. Jesus wendet hier ganz offen Gewalt an – zum ersten und einzigen Mal.
Wird er sich damit selbst untreu? „Selig sind die Sanftmütigen“, so sagt er es in der Bergpredigt. Doch an Sanftmut erinnert sein Verhalten nicht. Wichtig finde ich, darauf zu achten, für was sich Jesus hier so energisch ins Zeug legt. Es geht ihm nicht um sein eigenes Wohl. Es geht ihm um die Heiligkeit und die Offenheit des Tempels. Hier sollen alle Völker zum Gebet willkommen sein. Tatsächlich aber werden Reiche bevorzugt. Wer arm ist und nichts zu opfern hat, muss draußenbleiben.
Doch es bleibt die Frage, die an Aktualität nichts verloren hat: Wie weit darf ich gehen? Wie lebt man Sanftmut, wenn ein Machthaber getrieben von imperialistischem Größenwahn ein anderes Land überfällt und so sehenden Auges Zehntausende von Menschen in den Tod schickt? Jesus hat immer wieder gezeigt, dass er auf der Seite der Schwachen, der Armen und der Unterdrückten stand. Seinem Beispiel zu folgen, ist sicherlich richtig. Aber wo sind die Grenzen? Ist es in Jesu Sinne, Waffen zu liefern, deren Einsatz dazu führt, dass Menschen sterben. Oder ist es besser, keine Waffen zu liefern, wohl wissend, dass auch das das Sterben nicht beendet?
Jede und jeder von uns steht vor der Aufgabe, sich zu diesen Fragen zu verhalten, den eigenen Standpunkt zu finden oder eben auch festzustellen, dass die Suche danach erfolglos bleiben wird. Manchmal bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere innere Zerrissenheit auszuhalten. Doch wir dürfen Gott davon erzählen und ihn im Gebet um Rat und Hilfe bitten. Wie gut, dass er uns zuhört. Amen.

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  Judas - wer war er?

Judas - wer war er?

Heiko Frubrich, Prädikant - 26.03.2024

Judas – wer war er?
Standesämter lehnen es ab, Kindern seinen Namen zu geben. Sein Kuss hat es zu Weltruhm gebracht – weit über kirchliche Kreise hinaus. Er musste herhalten als Argument für Antisemitismus. Seine Rolle in Jesu Passionsgeschichte ist zentral, komplex und immer wieder Anlass für Diskussionen, Mutmaßungen und Unterstellungen. Ich rede von Judas Iskariot, dem Jünger, der Jesus verriet.
War er tatsächlich der korrupte Bösewicht, der sich für 30 Silberlinge kaufen ließ, 30 Silberlinge, von denen die Hohepriester hinterher sagten, dass es Blutgeld sei? Tatsächlich hat es zwei Leben gekostet, dieses Geld, denn nicht nur der Verratene stirbt, sondern auch der Verräter; er sogar durch eigene Hand.
Was war er für ein Mensch und was war seine Motivation, so zu handeln, wie er gehandelt hat? Wir wissen, dass er sich um die Finanzen kümmerte, dass er am lautesten protestierte, als eine Frau im Hause Simeons kostbares Öl über Jesus ausgoss und so aus ihm den Gesalbten, den Christus machte. Was trieb ihn an? Ihn für all die Geschehnisse verantwortlich zu machen, die sich bis zum Karfreitag ereigneten, ist ganz sicher eine falsche Ableitung. Jesu Tod am Kreuz war nicht das Ergebnis eines menschlichen Verrats. Jesu Tod am Kreuz war Teil des göttlichen Plans, einen neuen Bund mit uns Menschen zu begründen.
Also war Judas dann nur eine Art Kollateralschaden auf diesem Weg? Auch das erscheint mir fragwürdig. Vielleicht war er einer der wenigen, wenn nicht sogar der Einzige, der verstanden hatte, was notwendig war, um die Geschichte voranzubringen. Vielleicht hatte er bemerkt, dass es Zeit war, den entscheidenden Anstoß, den es noch brauchte, zu geben. Vielleicht war er derjenige, der dazu ausreichend mutig war?
Oder wollte er Jesu retten? Vielleicht hatte er Hoffnung, dass sie ihn einsperren würden, erst einmal weg aus der Öffentlichkeit und dann würde schon langsam Gras über die Sache wachsen. Irgendwann würde er wieder freikommen und dann wäre alles wieder gut. Möglicherweise waren das seine Überlegungen. Denn Judas zerbricht in dem Moment, als er sieht, dass Jesus zum Tode verurteilt wird. „Ich habe gesündigt und unschuldiges Blut verraten“, so sagt er im Matthäusevangelium.
Es gibt ein eindrucksvolles Theaterstück von Lot Vekemans über diesen Judas Iskariot, in dem nur er zu Wort kommt und die Geschichte aus seiner Perspektive erzählt. Ganz am Ende wendet sich Judas darin an das Publikum und fragt:
„Ihr ach so schlauen Leute, wenn ich die Geschichte zurückdrehen könnte / Keine Tat des Verrats, wie Ihr das gerne nennt / Kein letztes Abendmahl / Kein Kuss / Kein Kreuz / Kein Tod / Würdet Ihr das wirklich wollen?“
Amen.

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  Hosianna!

Hosianna!

Heiko Frubrich, Prädikant - 25.03.2024

Gestern haben wir Gottesdienst zum Palmsonntag gefeiert – natürlich mit Palmzweigen und mit Esel und mit Prozession. Und wir haben Hosianna gesungen, lange, kräftig, mit der ganzen Gemeinde, im Kanon. So soll es auch in Jerusalem gewesen sein, wie uns die Bibel berichtet, als Jesus mit seinen Jüngern in die Stadt kam. Die Menschen haben ihn stürmisch begrüßt. Doch sie haben nicht nur gejubelt, sie haben geschrien, wie zu lesen ist. Und dieses Hosianna ist kein Ausdruck von Freude und Begeisterung. Hosianna bedeutet: Hilf doch!
Hilf doch, du König von Israel. Hilf uns heraus aus der Unterdrückung unserer römischen Besatzer. Führe uns in die Freiheit zurück und mach ein Ende mit der Steuereintreiberei, mit unserer Entrechtung und Knebelung. Mach uns wieder zu einem stolzen und freien Volk! Diese Wünsche haben mitgeklungen im Hosianna – hilf doch!
Jesus sagt die ganze Zeit kein einziges Wort. Schweigt er, weil er in den Menschen, die ihm jetzt noch mit Palmzweigen zuwinken, jene erkennt, die in wenigen Tagen seine Kreuzigung fordern werden? Schweigt er, weil er Kraft sammelt, um all das zu ertragen, was auf ihn wartet? Schweigt er, weil er enttäuscht ist, dass die Menschen offenbar nicht verstanden haben, welche Art von König er tatsächlich ist?
Jesus hat aus seiner Bestimmung nie ein Geheimnis gemacht. Immer wieder hat er gesagt, dass er sterben muss und wieder auferstehen wird. Doch das war für die Menschen seinerzeit derartig unglaublich, dass sie es nicht angenommen haben. Sie wollten etwas anderes glauben, etwas anderes hoffen, etwas anderes erleben. Deshalb schreien sie Jesus ihr forderndes Hosianna – Hilf doch – entgegen.
Immer wieder tappen Menschen in die Falle, dass sie das hören, was sie hören wollen und nicht das, was tatsächlich gesagt ist. Und immer wieder ist hinterher die Ausrede zu hören: „Das haben wir doch aber alles gar nicht gewusst.“ Doch vieles wäre zu hören und zu wissen und dann auch zu verhindern gewesen. Vieles ist auch heute zu hören, zu wissen und zu verhindern, wenn wir denn genau zuhören.
Jesu Passionsweg hatte nur ein einziges Ziel: uns von unseren Sünden zu befreien und uns die Tür zu öffnen zum ewigen Leben in Gottes Herrlichkeit. Dafür ist er ans Kreuz gegangen, dafür hat er sich verraten, verleumden und umbringen lassen. Er hat es für uns getan. Seine Befreiung war viel größer als das, was die Menschen in Jerusalem von ihm erhofft hatten, seine Befreiung war viel grundlegender, viel existenzieller.
Doch wir sollten uns davor hüten, die Menschen in Jerusalem mittleidig zu belächeln. Ja, wir wissen heute mehr, als sie wissen konnten. Doch auch uns steht Demut gut zu Gesicht. Denn es gilt weiterhin, dass der Friede Gottes höher ist, als all unsere menschliche Vernunft. Und das wird sich in diesem Leben auch nicht ändern. Amen.

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  Mitten hinein

Mitten hinein

Cornelia Götz, Dompredigerin - 23.03.2024

Über dieser Woche stehen noch immer ein paar Verse aus dem Markusevangelium:
Da sagt Jesus zu den Seinen -
zu denen, die Krieg, Gewalt, Hunger und Not aus nächster Nähe kannten, die schon so viel durchgemacht hatten und vielleicht aufgegeben hätten um sich nicht verführen zu lassen an etwas zu glauben, das dann doch nichts wird,
zu denen also, die wirklich Ernst damit gemacht haben, ihr eines Leben in seine Hände zu legen:
„Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem. Dort wird der Menschensohn den Hohepriestern und Schriftgelehrten ausgeliefert. Sie werden ihn zum Tode verurteilen und an die ausliefern, die unser Land besetzen. Die werden ihn verspotten und anspucken und auspeitschen und töten.“
Was für eine Vollbremsung!
Was für ein ungeheurer Schlag ins Kontor.
Seht. Dort gehen wir hin und ich werde das nicht überleben.
Er weiß es.
Es scheint unabänderlich zu sein.
Was hat er sich auch gedacht? Allein gegen das System…
So stirbt die Hoffnung.
Tut sie das?
Galina Timtschenko, Mitbegründerin des russischen Exilmediums „Meduza“ sagte am letzten Sonntag
während der russischen Wahlen,
während in unseren Kirchen dieser Text verlesen wurde:
sie sei - erst Recht nach dem elenden Tod Alexei Nawalnys - absolut hoffnungslos. Man müsse aber trotzdem aufstehen und Zähneputzen und weitermachen.
Das ist womöglich der Move, mit dem sich die Jünger jetzt nach Jerusalem schleppen - im Ohr denunbegreiflichen abschließenden Halbsatz: „Und nach drei Tagen wird er auferstehen.“
Nach drei Tagen.
Wenn die Katastrophe eh schon passiert ist.
Wenn das Unheil sich unabänderlich ins Werk gesetzt hat.
Was kann danach noch sein?
Ich drehe und wende diese wenigen Zeilen und denke mir:
Das angekündigte Unglück hat solche Dominanz, es bindet alle unsere Kraft. Es ist fast folgerichtig darin zu überhören, dass nicht nur das Schlimme passiert sondern auch unbegreifliche Wunder.
Oder mit Hilde Domin:
„Unsere Kissen sind nass / von den Tränen / verstörter Träume.
Aber wieder steigt / aus unseren leeren / hilflosen Händen / die Taube auf.“

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  Vielleicht erinnert sich wer meiner...

Vielleicht erinnert sich wer meiner...

Cornelia Götz, Dompredigerin - 21.03.2024

Manchmal kommen auf eigentümliche Weise Momente zusammen, die einen gemeinsamen Kern zu haben scheinen:
Da erreicht mich eine Mail mit Ostergrüßen von einem, den ich seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen habe. Es war ein Mathematiker, der nach der Wiedervereinigung zu alt für Stipendien und zu jung für eine Professur war, angefasst davon, dass seine Abschlüsse nicht anerkannt wurden. So verließ er das Land. Vorher aber brachte er mit den nun vorhandenen Zutaten unsere Studentenküche zum Glühen und füllte Fasane mit Rosinen und kochte die erste Bouillabaisse meines Lebens. Ich sah sein Gesicht vor mir. Seine leuchtenden Augen.
Unter dem IPad, auf dem ich das schreibe liegt eine neue Tischdecke - Leinen mit Hähnen darauf. Meine Mutter hat sie am Wochenende für mich genäht und dazu gesagt: „Ich sag lieber nicht, damit Du morgens an mich denkst. Meine Mutter hat das gemacht, als sie mir eine grüne Wäscheleine mit rosa Klammern schenkte. Jahrelang konnte ich keine Wäsche aufhängen ohne zu weinen.“
Und dann ist da noch der Deutschlandfunk und die Stimme eines Mannes, der weiß, dass sein Vater noch immer im nördlichen Teil des Gazastreifens ist und anschließend in der Morgenandacht die Geschichte einer Urururgroßtante, die als Nonne nach Bosnien ging um ein Waisenhaus aufzubauen. Dazwischen immer wieder die Forderung nach einem Waffenstillstand in Gaza und Freilassung der Geiseln, der Krieg in der Ukraine…
Während also diese so unterschiedlichen Momente noch in mir arbeiten, steigt ein Gedicht auf. Eva Strittmatter hat es geschrieben. Vielleicht in einem einsamen Moment:
„Vielleicht erinnert sich wer meiner. / Einer, der geht durch Leningrad. / Oder ein andrer in Kaluga. / Und wer in einer deutschen Stadt.
In dieser Stunde scheint mir sicher: / Wir sind Gefäß für fremden Wein. / In mir sind alle, die mich trafen. / So möchte ich in allen sein.“
Vielleicht erinnert sich wer meiner?
Vielleicht trägt jemand im Herzen mein Bild weiter, den Klang meiner Stimme?
Vielleicht schließt mich jemand in sein Gebet ein?
Vielleicht fällt jemanden wieder ein, dass ich Angst habe, verloren zu gehen?
Vielleicht behält jemanden meinen Namen, wenn andere ihn aus radieren wollen?
Vielleicht rührt solche Erinnerung jemandes Gewissen, der handeln könnte?
Vielleicht…
Eva Strittmatter war, soweit ich weiß, keine Christin. Aber ich denke, dass wir mit unseren Namen aufgehoben sind bei Gott, dass wir verbunden sind durch einen Geist, der Tröster heißt, dass Gott die Liebe in unser Herz gesenkt hat.
All das spüren wir in solchen Momenten geteilter Erinnerung.
Und auch, was es bedeutet einer dem anderen der Nächste zu sein - durch Raum und Zeit.

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  Demut

Demut

Cornelia Götz, Dompredigerin - 20.03.2024

Zeitzeichen, vielleicht die bekannteste evangelische Monatszeitschrift, titelt: „Demut“. Ausgerechnet. Wäre nicht „Mut“ dran gewesen. Empowerment???
Demut also.
Das Wort kommt aus dem Althochdeutschen und meint so etwas wie das Gemüt eines Dieners. Seine Seelen Befindlichkeit.
Wie mag die sein?
Erwartungslos, bescheiden, einsichtig und eigener Grenzen bewusst…
Wird das nicht nur zu noch mehr Unsichtbarkeit, Ohnmacht, Schweigen führen? Das springt mich an – erst recht nach einem Abend wie dem gestrigen, als der ehemalige Berliner Bischof Markus Dröge so dringend darum warb, sich jetzt zu bekennen, klar „Ja“ oder „Nein“ zu sagen , rote Linien zu ziehen.
Hilft dabei eine Dienerseele?
Das sollte ich mich nicht fragen. Wir hören ja: „Die Ersten werden die Letzten sein“ oder wie Martin Luther 1520 schrieb: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“
Dann also doch: was hat es mit der Demut auf sich? Gerade jetzt?
Und ich lese: „Gibt es einen Weg der Humanität, …der ohne Demut auskommt?“ und weiter: „Man darf sich nicht gewissenlos irgendeiner Autorität unterwerfen. Man darf aber auch nicht gewissenlos sich selbst dem eigenen ich unterwerfen.“ Mithin: nachdem wir lange dafür gekämpft haben, uns selbst finden und „Ich“ sagen zu dürfen ist nun der Punkt gekommen, „Mehr sein zu dürfen als ein dürftiges Ich.“
Ein „Wir“ im Dienst einer großen Idee.
Das werden wir werden wir brauchen. Gerade jetzt.
Und damit wir uns dabei nicht verirren, nicht Rattenfängern, Demagogen und Lügnern auf den Leim gehen, wird des gut sein, sich dann und wann der Jahreslosung zu vergewissern:
„Alles, was ihr tut, lasst in der Liebe geschehen.“ 1. Kor 16,14
Das ist und bleibt ein gutes versöhnliches im besten Sinne demütiges Kriterium und hält zugleich wach: was ihr „tut“. Tut.

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  Friedenstüchtig werden

Friedenstüchtig werden

Cornelia Götz, Dompredigerin - 18.03.2024

Letzte Woche war ich in der Woltersburger Mühle, einem Friedensort der Hannoverschen Landeskirche. Es ging um Friedenstheologie, darum, wie wir „friedenstüchtig werden“ können.
Den Kontext zur Tagung lieferte August Pradetto, Sicherheitsexperte und emeritierter Professor der Hamburger Universität der Bundeswehr. Nüchtern beschrieb er die Eskalation der vergangenen zwei Jahre: was heißt es, wenn wir jetzt von „Kriegstüchtigkeit“ statt von „Verteidigungstüchtigkeit“ reden und im Raum steht, ob Deutschland Atomwaffen braucht, wenn die NZZ schreibt: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ und damit den nationalsozialistischen Völkerrechtler Carlo Schmitt zitiert. Und: Werden wir uns indem wir einander zu Feinden erklären nicht immer ähnlicher?
Es ging um Doppelstandards. Wofür werden die einen angeklagt, die anderen aber nicht?
Abend und Morgen. Ein neuer Tag.
Und ein Bericht von Friedrich Kramer, Bischof der mitteldeutschen Kirche und Friedensbeauftragter, der konstatierte: nach der Friedensdenkschrift und der Friedenssynode gibt es eine Umkehr aller Gewissheiten, die nicht durch den Ruf Jesus Christi in seine Nachfolge sondern durch den Ukraniekrieg motiviert ist.
Jetzt ist die Zeit der Saulusbekenntnisse: „Früher habe ich …, aber dann?!“
Zeit für Bibelarbeit.
In der Einleitung zu den Seligpreisungen heißt es: Sehend das Leid der Menschen, öffnete er seinen Mund und sprach:
Sehend. Dieser Anfang sagt: alles was kommt ist nicht unabhängig von Zeit und Ort.
Der hier spricht, sieht das konkrete Leid.
Und auch: Das was er sagt, fällt nicht vom Himmel, sind nicht die unrealistischen Vorstellungen eines Menschen, der nicht ganz von dieser Welt ist – sondern das Ergebnis eines generationenlangen Ringens:
Schon im Psalm 37 heißt es erfahrungsgespeist und leidgeprüft:
„Die Sanftmütigen erben das Land, erquicken sich an der Fülle des Friedens.“
Immer schon ging es um die Zähmung und Unterbrechung der Gewalt.
Darum steht das Verbot zu töten in der Mitte der 10 Gebote.
Drumherum sind Zäune gebaut.
Im ersten geht es um die Familie: die Eltern, die Ehe.
Im zweiten geht es um die Ökonomie / den Diebstahl und den Sabat, den freien Tag.
Hinterm dritten Zaun stehen Gottes Name und das falsche Zeugnis – der öffentliche Diskurs. Und außenrum: das Verbot des Gottesbildes und der Gier.
So viele Zäune schützen davor zu töten.
Denk nicht mal dran!
Und noch eine Bibelarbeit: zum 1. Thessalonischer:
„Wir aber, die wir Kinder des Lichtes sind, wollen nüchtern sein“ – nicht wütend, nicht verzweifelt, nicht empört – „angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und dem Helm der Hoffnung.“
Glaube, Liebe , Hoffnung
Die Hoffnung ist hier die größte unter ihnen.
Und sie ist, auch das hab ich gelernt, etwas anderes als Optimismus.
Optimismus setzt zwischen den absehbaren Möglichkeiten auf die bessere.
Hoffnung weitet den Horizont und glaubt daran, dass wie in der Schöpfungsgeschichte an jedem neuen Tag etwas möglich, das gestern noch nicht war. Möge es so sein!

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  Wir setzen uns mit Tränen nieder

Wir setzen uns mit Tränen nieder

Heiko Frubrich, Prädikant - 16.03.2024

Es ist der Chor der Augenzeugen, der Chor derer, die gehört haben, was passiert ist, der Chor der Erschütterten, der Enttäuschten, der Trauernden. Und ja, es ist auch der Chor der Liebenden. „Wir setzen uns mit Tränen nieder und rufen dir im Grabe zu: Ruhe sanfte, sanfte ruh!“
Jesu Jünger mögen mit einstimmen in diesen Choral – einige von ihnen werden sich mitverantwortlich fühlen für diese Katastrophe von Golgatha. Sie haben ihren Lehrer, ihren Meister, ihren Freund, mit dem sie drei Jahre lang unterwegs waren, alleingelassen, gerade als er sie wohl am meisten gebraucht hat. Doch es wird ebenso tiefe Enttäuschung mitgeklungen haben, denn das, worauf sie und so viele andere alle Hoffnung gesetzt hatten, ist jämmerlich und weithin sichtbar untergegangen. Der neue und strahlende König erweist sich als vollkommen hilflos und stirbt erbärmlich am Kreuz.
Es ist der Schlusschor aus Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion, der all das ausdrückt und der Charles Marie Widor zu seiner Bearbeitung inspiriert hat, die wir gleich hören werden.
In Bachs Werk, das durchgängig zweichörig geschrieben ist und in dem diese Chöre unterschiedliche Rollen einnehmen, singen sie nun gemeinsam. Jesu Tod am Kreuz betrifft alle Menschen. Was dort vor gut 2000 Jahren am Karfreitag in Jerusalem passiert ist, war epochal, eine echte Zeitenwende.
„Ruht, ihr ausgesognen Glieder, euer Grab und Leichenstein soll dem ängstlichen Gewissen ein bequemes Ruhekissen und der Seelen Ruhstatt sein“, so heißt es weiter. Wo sehen Sie, ja, wo sehen wir unseren Platz in diesem Chor? Oder stehen wir vielleicht nur daneben und denken: Na, das war ja wohl nix? Schließlich wissen wir, dass es mit der Ruhe der ausgesogenen Glieder nicht weit her war. Denn die Geschichte von Jesu Passion ist ehrlicherweise und im wahrsten Sinne des Wortes „Gott sei Dank!“ mit dem Karfreitag nicht zu Ende erzählt.
Das Licht des Ostermorgens beendet die Grabesruhe. Das Licht des Ostermorgens zerstreut die Enttäuschung, die Trauer und die Verzweiflung derer, die da singen und wandelt sie in Hoffnung und Freude. Jesu Tod ist nicht von Dauer, sondern er mündet in einen strahlenden Sieg des Lebens, das Gott nicht nur seinem Sohn schenkt, sondern uns allen – Ihnen und Euch und mir!
Bei Charles Marie Widor wird dies wie ein zarter Silberstreif am Horizont deutlich, wenn der Schlussakkord in strahlendem Dur erklingt. Und Jesus Christus spricht: „Ich lebe und Ihr sollt auch leben!“ Amen.

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  Am Füreinander wachsen

Am Füreinander wachsen

Henning Böger, Pfarrer - 15.03.2024

„Man kann bitter werden, oder man wächst.“ Dieser Satz steht am Ende des neuen Buches der Schriftstellerin Elizabeth Strout. „Am Meer“ heißt ihr Roman, der die Geschichte einer Flucht erzählt.
Rückblende: Im März 2020 erhält Lucy einen Anruf von ihrem geschiedenen Mann. Der arbeitet als Wissenschaftler und ahnt, welche tödliche Gefahr vom Corona-Virus ausgehen wird. Er sagt: „Wir müssen New York sofort verlassen.“ Hals über Kopf verlassen sie die Metropole, in der Menschen bald zu Tausenden sterben werden, und fahren in ein Haus am Meer. Vier Wochen wollen sie bleiben, am Ende wird es ein ganzes Jahr.
Es ist ein Jahr voller Sorge, die wir in der Pandemie wohl alle selbst geteilt haben: die Sorge um die Eltern und Partner, die Kinder und Enkelkinder, die Freunde und Kollegen.
Lucy und ihr Mann erleben, was alle damals erlebt haben: wie das Leben stillsteht und dann vorsichtig wieder in Bewegung kommt. Manchmal trifft man sich, trägt Maske und hält Abstand zu einander. Und merkt dabei, wie sehr man aufeinander angewiesen ist.
Man dürfe nicht nur mit dem eigenen Kopf denken, sagt die Protagonistin Lucy an einer Stelle des Romans. Man müsse immer auch versuchen, in den Kopf der anderen zu kommen, um sie besser zu verstehen. Bei aller Sorge bleibt am Ende diese Erkenntnis: „Man kann bitter werden, oder man wächst.“ Ja, Sorgen haben Gewicht nach unten im Leben. Sie können auch lästig sein, aber oft halten sie uns auch lebendig. Sorgen haben ihren Wert darin, dass sie uns Menschen helfen, einander im Blick zu behalten, uns umeinander zu kümmern. Denn wer sich kümmert, der verkümmert nicht. Ich denke, das ist es, was Jesus meint, wenn er sagt: „Sorgt euch nicht um euer Leben!“ Das ist kein Aufruf, einfach nur sorglos vor sich hinzuleben. Nein, es ist ein Wink, auf das Leben anderer zu achten, darin die Schwere, die Last und den Zweifel wahrzunehmen und sich selbst etwas angehen zu lassen.
Wer sich um andere sorgt und nicht nur um sich selbst, so verstehe ich Jesus, der behält einen wacheren Blick auf das eigene Leben. Das soll dabei helfen, über eigene Sorgen nicht bitter zu werden, sondern am Füreinander menschlich zu wachsen.

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  Ostertüren

Ostertüren

Lisa Koch-Wehe, Vikarin - 13.03.2024

Ostertüren

Da liegt sie einfach so herum. Mitten auf dem Gehweg. Eine weiße Tür. Ein ansehnliches Modell. Drei mit Zierleisten abgesetzte Felder. Ein hübscher alter Beschlag aus Metall. Geschwungen, zwei Ziernägel, ein großes Schlüsselloch. Die Türklinge ragt einladend heraus. So liegt sie da herum – mitten auf dem Gehweg. Als könnte man die Klinke herunterdrücken und sie öffnen, wie eine Falltür. Einfach aufklappen hindurchschlüpfen und abtauchen in das, was darunter liegt. Unter dem Gehweg, tief in der Erde. Vielleicht eine Treppe in eine andere Welt? Wie der Schrank nach Narnia. Abtauchen in ein anderes Leben, neue Welten erkunden, mitten auf dem Weg. Großes Abenteuer auf kleinen Alltagswegen. Zwischen Frühstückstoast und Arbeitstermin.

Ich glaube es gibt sie nicht nur in Braunschweig auf dem Gehweg: Türen auf Lebenswegen. Manchmal tauchen sie ganz unverhofft auf, manchmal wurden sie schon lange ersehnt, manchmal mühsam erkämpft. Und Türen sind immer irgendwie beides, denke ich: Ein Anfang, aber auch ein Ende. Eine Schwelle. Ein Abschied. Und manchmal auch eine schwere Entscheidung, wenn der Weg zurück nicht so einfach ist wie bei einer automatischen Drehtür: Die Tür öffnen oder daran vorbeilaufen und weiter machen wie immer? Das Altbekannte verlassen und ein neues Abenteuer wagen oder lieber kein Risiko eingehen? Etwas beenden und den Abschiedsschmerz aushalten und dafür neue Perspektiven gewinnen oder auf dieser Seite der Tür bleiben, wo alles hübsch geordnet ist, aber nichts Neues mehr wächst?

"Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht."
Im Wochenspruch für den vergangenen Sonntag Lätare, für „Klein-Ostern“, höre ich auch etwas von so einer Entscheidung an der Türklinke. Vom Mut zum Klinken drücken, Schwellen übertreten und dem Blick voraus auf neue Chancen. Von diesem Moment der Entscheidung. Vom größten Risiko und vom größten Vertrauen. Von den kleinen Osterfesten auf Lebenswegen. Vom Mut, etwas loszulassen, zu begraben, es in die Erde zu geben. Einen alten Schmerz, eine nagende Unzufriedenheit, ein vergebliches Hoffen. Im Vertrauen darauf, dass aus dem Alten etwas Neues erblühen kann. Dass nach dem Loslassen, hinter der Tür, der gewagte Aufbruch neues Leben bringt. Und die Aussicht auf üppiges Grün und blühende Welten.

Vielleicht findet sich hier und da so eine unverhoffte oder eine lang ersehnte Ostertür im Leben. Und der Mut, sie zu öffnen. Im Vertrauen darauf dass dahinter ein neuer Frühling wartet. Frisches Grün keimt. Neues Leben. Mit Gottes Hilfe.


Vikarin Lisa Koch, 13.03.2024

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  Noise Cancellation

Noise Cancellation

Lisa Koch-Wehe, Vikarin - 12.03.2024

Noise Cancellation

Ich lege die dicken Polster der blauen Kopfhörer um meine Ohren. Ein Klick auf die kleine Taste über meinem rechten Ohr: Der bekannte Ton, die vertraute Stimme: „Connected to iPhone Lisa“ – „verbunden mit Lisas iPhone“. Die Welt wird schon leiser. Ein Klick auf die kleine Taste hinter meinem linken Ohr: „Noise Cancellation 5“ – „Geräuschunterdrückung 5“. Noch einer: „Noise Cancellation 10“ – „Geräuschunterdrückung 10“. Der Bahnsteig um mich herum verschwindet in watteweicher, dumpfer Stille. Sie dröhnt in meinen Ohren, in denen eben noch das ganze Leben tobte. Endlich Ruhe.

Laune im Keller heute, keine Lust mehr, alle Akkus leer. Alles zu viel, alles zu laut. Das rhythmische Rattern zur Einfahrt des ICE auf Gleis 3 verstummt. Die Durchsagen. Das hektische Telefonat zwei Meter weiter. Auf Pause gedrückt, alles kurz stummgeschaltet.
Ich atme laute Stille mitten in der Bahnhofsreisehektik. Einatmen. Ausatmen. Augen zu. Für einen Moment nur die Stille und ich am zugigen Bahnsteig. Einatmen. Ausatmen. Schmeckt nach einer kleinen Ewigkeit. Pause-Taste.

Ich hole das Smartphone aus der Jackentasche und öffne die Musik-App. Ein Klick – meine kleine Welt. Mitten zwischen Gleisen und Mülleimern. Nochmal: Einatmen. Ausatmen. Playlist aussuchen. Da ist noch die von der Konfi-Freizeit: „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“ heißt die. Ich drücke auf Play. Shuffle. Zufällige Reihenfolge. Mein Zug fährt ein. Zum Glück nicht viel los. Fensterplatz, Doppelsitz für mich allein. Rucksackfestung neben mir. Einfach verschwinden zwischen Musik und Fensterglas.

Die Landschaft zieht vorbei. Ich lausche der kleinen Welt auf meinen Ohren. Keine Nebengeräusche: Noise Cancellation. Die Melodien und Texte sickern langsam in mein Herz. Lieder von Liebe und Hoffnung und Freiheit.
Taylor Swift: „This love left a permanent mark. This Love is alive back from the dead.” – „Diese Liebe hat bleibende Spuren hinterlassen. Diese Liebe ist lebendig zurückgekehrt aus dem Tod.“
Kelly Clarkson: „I’m broken and it’s beautiful” – „Ich bin gebrochen und wunderschön“
Irie Revolté: „Freiheit und zwar jetzt. Ich werd‘ nie mehr sein, was ich soll, sondern werden wie ich bin. Ich wag den Ausbruch, drück Reset.“

Abfahrt vom letzten Bahnsteig vor meinem Ziel. Ruckelnd setzt sich der Regionalexpress in Bewegung. Erst langsam, dann immer schneller fliegen die Häuser vorbei, die Sträucher, dann die Felder und der Fluss. Wilhelmine singt in mein Ohr: „Es ist schön, dass es dich gibt. Du bist gut so, wie du bist. Es gehen Arme für dich auf, solange du dich bewegst.“

Der letzte Ton verklingt. Doppeltipp rechts auf den Kopfhörer. Stopp-Taste. Ich sehe das Kofferklappern und Jackenrascheln, aber ich höre wieder nur die watteweiche Stille. Aber diesmal ist sie anders. Herzklopfen, Lächeln, Gänsehautkribbeln. Am Fenster zieht die Stadt vorbei. Gabelstapler auf dem Hof der Brauerei, Straßen voller Autos, Menschen im Park. Nochmal einatmen. Ausatmen. Augen zu. Einatmen. Augen auf. Bin wieder bereit für den Tanz in lautes Leben und frische Freiheit – zum sanften Grundton der Hoffnung.

Amen.

Vikarin Lisa Koch-Wehe, 12.03.2024

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  Ob es Gott gibt

Ob es Gott gibt

Henning Böger, Pfarrer - 11.03.2024

Wort zum Alltag im Braunschweiger Dom am Montag, 11. März 2024

Ob es Gott gibt


Im Kindergarten gibt es Streit. Ein Mädchen sagt: „Gott ist immer da und passt auf!“ Ein Junge lacht und sagt bestimmt: „Gott gibt es gar nicht!“ Jetzt kriegen alle Kinder auf dem Spielteppich große Ohren und unterbrechen ihr Spiel. Alle wissen etwas: von Mama und Papa, Oma und Opa, aus der letzten Bibelwerkstatt. Alle rufen durcheinander, bis ein Junge ruft: „Los, wir stimmen jetzt ab: Wer glaubt, dass es Gott gibt?“ Ein paar Kinder heben die Hand. Gegenfrage: „Wer glaubt nicht, dass es Gott gibt?“ Jetzt melden sich andere. Es sieht nach einem Unentschieden aus.

Das ist eine wunderbare Szene: Die Kinder können sich nicht einigen, darum stimmen sie einfach ab. Sie lösen die grundlegendste Frage der Geistes- und Ideengeschichte durch eine Abstimmung mit ihren Kinderhänden, die zu einem Unentschieden führt. Weil die Frage danach, ob es Gott gibt, nicht für alle gleich und dauerhaft zu lösen ist. Weil die Antworten schwanken - oft auch in uns selbst: Heute glaubst du das. Morgen zweifelst du darüber. Manchmal bin ich ganz gewiss, dann wieder bin ich unsicher. Unentschieden!

Der Glaube an Gott bleibt ein lebenslanges Ringen um Erkenntnis. Das weiß auch der Apostel Paulus. Der schreibt im ersten Korintherbrief: „Jetzt schauen wir in einen dunklen Spiegel, dann aber werden wir erkennen - so, wie wir von Gott jetzt schon erkannt sind.“ Wie gut, wenn wir Menschen das niemals vergessen, wenn wir im Blick auf Gott das Hoffen und Zutrauen nicht verlernen.

Der verstorbene Braunschweiger Pfarrer Eberhard Borrmann hat darüber einen berührend schlichten Glaubenschoral gedichtet. Er findet sich in unseren Gesangbüchern: „Ich möchte Glauben haben, der über Zweifel siegt, der offen ist für Frage und vorbehaltlos liebt. Gott, du kannst alles geben, dass Glaube in mir reift, das Zukunft wächst zum Leben und Liebe mich ergreift.“

„Los, wir stimmen jetzt ab“, ruft der Junge im Kindergarten: „Wer glaubt, dass es Gott gibt? Und wer glaubt nicht, dass es Gott gibt?“ Die Kinderhände schnellen in die Höhe, es sieht nach einem Unentschieden aus. Wie heben wir die Hand? Vielleicht so: Wenn ich mein Leben ansehen, als sei Gott da, dann sieht mein Leben heller aus, irgendwie freundlicher.

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  KV-Wahl

KV-Wahl

Cornelia Götz, Dompredigerin - 09.03.2024

Morgen kommt es wild zusammen:
Kirchenvorstandswahl. Falls sie noch nicht gewählt haben: bitte gehen Sie hin! Es sind ja nicht nur Menschen, die Lebenszeit und Herzblut, Fantasie und Tatkraft investieren wollen, um Gemeinde zu bauen – damit wir alle eine Zuflucht haben, einen Ort, an dem wir Klarheit finden und Hoffnung schöpfen können – denen ich ganz viel Bestärkung wünsche. Jede abgegebene Stimme ist auch ein Lebenszeichen, Zeugnis wider die Gleichgültigkeit und Ermutigung für alle, die sich in diesem Jahr an Wahlen wagen und so dringend Stimmend derer brauchen, die nicht wählen gehen.
Warum kommt das wild zusammen?
Weil die Kirchenvorstandswahl auf einen Sonntag in der Passionszeit trifft, zu dem die Geschichte von Petrus gehört, der dreimal lügt. Sein Job ist es, den wir bei der Wahl ausschreiben: den eines Menschen, der öffentlich dazugehört und Verantwortung trägt, die ihr Gesicht hinhält.
Dreimal traut Petrus sich nicht, zuzugeben, dass er dazugehört, dass er Jesus Christus kennt, dass er an ihn glaubt. Dreimal!!! Und es kommt nicht überraschend – sondern mit Ankündigung.
Das kann nur Angst sein.
Angst, für naiv gehalten zu werden.
Angst, sein eines Leben für etwas einzusetzen, das so Viele für irrelevant halten.
Angst, für eine Haltung einzustehen, die einen Preis hat.
Vor wem drückt er sich hier?
Darum muss man wohl fragen::
Wer sind die, die sich am Feuer wärmen?
Wer sind die, die Petrus mit ihren Fragen löchern?
Wer sind die, die von Golgatha Abstand halten?
Oder mit den Worten des Dichters und Theologen Christian Lehnert:
„Wer urteilt?
Wer ängstigt sich?
Wer bezeugt?“
Und dann antwortet er:
„Er, der auf den Berg stieg und heimkehrte / ohne ein Gesetz, / wie er leben soll.
Er, der als einziger bemerkte, / dass die wilden Birnen / noch im Dezember hingen.
Er, der nichts vorhat, / der von nichts mehr eingeholt wird, / dauernd.
Sie, die sich vor den Tauben fürchtet, / die sie füttert, / die sie besänftigt mit Brot.
Sie, die in den leergewohnten Häuserblocks / die absolute Unschuld erkennt / und nichts sagt.
Er, dem entgeht, / dass kaum einer den andern sieht, / das ist lange her:
Wer urteilt?
Wer ängstigt sich?
Wer bezeugt?“
Wir alle, denke ich. Umso großartiger, dass sich überall Menschen trauen, ja, zu sagen. Ja, ich bin dabei. Ja, den kenne ich. Stärken wir sie!

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  Strand

Strand

Cornelia Götz, Dompredigerin - 07.03.2024

Navid Kermani und Natan Sznaider, ein Deutscher und ein Israeli, ein Muslim und ein Jude, haben sich vor 21 Jahren Briefe geschrieben – über die Situation in Israel und Palästina. Die Texte sind von unglaublicher Direktheit und Klarheit; sie waren ja auch nicht für die Öffentlichkeit sondern nur für die Augen eines Freundes gedacht – sei er auch noch so anders.
Neben vielem, was einem schwer zu denken gibt oder sich unsäglich bewahrheitet hat, gibt es auch sehr anrührende Stellen. Einmal schreibt Natan Sznaider aus Tel Aviv: „Der Strand gilt wohl für viele von uns als letzter Fluchtpunkt, als Horizont, als Ausgang zum Westen, als Ausdruck von Körper und Äußerlichkeit gegen die Schwere der Geschichte in diesem Land.“
So schön formuliert habe ich es noch nicht gehört, warum es so gut tut an einem Strand zu sein.
Nicht nur, weil die Sehnsucht Nahrung hat – sowie es sich auch an den Ostseestränden der ehemaligen DDR angefühlt hat: hinterm Horizont geht es weiter und wird in jedem Falle besser sein…
Der Strand, die Grenze zwischen Wasser und Land, festem Grund und unwägbarer mal bezaubernder mal gefährlicher weite, erzählt auch von der konkreten Hoffnung, dass es andere Ufer und andere Realitäten geben möge, dass am anderen Ende vielleicht auch einer am Strand steht und sich herdenkt, eine Brücke baut.
Der Strand tut gut, weil man sich wieder spürt, körperlich – als Teil der Schöpfung, wenn der Wind einen vor sich hertreibt oder die Sonne das Gesicht wärmt, wenn wir merken, dass das Wasser uns trägt und Leichtigkeit schenkt.
Der Strand entlastet vom Gegrübel und der Innerlichkeit.
Wie gut, dass Tel Aviv einen hat.
Vielleicht ist auch der Prophet Jesaja an einem Strand entlanggegangen als er Worte schöpfte, die heute – über diesem Tag – so klingen:
„DER HERR hat Zion mit Recht und Gerechtigkeit erfüllt. Und du wirst sichere Zeiten haben: Reichtum an Heil, Weisheit und Klugheit.“
Eine Sehnsucht.
Eine Hoffnung.
Eine Wirklichkeit?
Im Lehrtext der Apostelgeschichte heißt es: „So hatte nun die Gemeinde – die Menschen - Frieden in ganz Judäa und Galiläa und Samarien…“
Frieden in der ganzen Gegend. So möge es hoffentlich, endlich, irgendwann wieder sein.

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  Hunger ist kein Bettgestell

Hunger ist kein Bettgestell

Cornelia Götz, Dompredigerin - 06.03.2024

In dem Lied „Jesu, meine Freude“ heißt es in er dritten Strophe: „Tobe Welt und springe, ich steh hier und singe in gar sichrer Ruh…“ - wir haben es heute Morgen im Konvent gesungen. Es ist nicht das, was ich gerade spüre. Eigentlich kommt es mir eher so vor als ob man auf- und nieder springen kann und es bewegt sich doch nichts.
So ist es mit dem Hunger.
Eigentlich ist es unbegreiflich.
Es gibt genügend Nahrungsmittel und trotzdem hungern und verhungern Menschen in so bestürzend großer Zahl.
Ich kenne nur den Hunger nach einer großen Anstrengung oder einer langen Pause zwischen den Mahlzeiten, nach einer Op.
Aber das ist nicht wirklich Hunger, nicht die Art, die Leben gefährdet oder Verzweiflungstaten mit sich bringt.
Herta Müller erzählt in ihrem Buch „Atemschaukel“ vom Hunger auf beklemmend klare Weise:
„Immer ist der Hunger da. Weil er da ist, kommt er, wann er will und wie er will. …
Und der Hungerengel hängt sich ganz in meinen Mund hinein, an mein Gaumensegel. Es ist seine Waage. … Der Hungerengel schaut auf seine Waage und sagt:
Du bist mir noch immer nicht leicht genug, wieso lässt du nicht locker. …
Und es kommt der Abend. Und alle kommen von der Arbeit heim. Und alle steigen in den Hunger. Er ist ein Bettgestell … ich spüre an mir, der Hunger steigt in uns hinein. Wir sind das Gestell für den Hunger.
Wir alle essen mit geschlossenen Augen. Wir füttern den Hunger die ganze Nacht.
… Ich esse einen kurzen Schlaf, dann wache ich auf und esse den nächsten kurzen Schlaf. Ein Traum ist wie der andere, es wird gegessen. … Der Schlaf bleibt dünn, je mehr ich esse, und der Hunger wird nie müde.
Der Hungerengel denkt richtig, fehlt nie, geht nicht weg, kommt aber wieder, hat seine Richtung und kennt meine Grenzen, … ist Experte für Meldekraut, Zucker und Salz, Läuse und Heimweh, hat Wasser im Bauch und in den Beinen. Mehr als Aufzählen kann man nicht. …Wenn du nicht lockerlässt, meinst du, es sei nur halb so schlimm. Aus dir spricht bis heute der Hungerengel. … Nur darf man über den Hunger nicht reden, wenn man Hunger hat. Der Hunger ist kein Bettgestell, sonst hätte er ein Maß.“
Wie schlimm muss der Hunger gewesen sein, wenn man solche Worte findet.
Wie schlimm muss er die Menschen in Gaza quälen, das sie ihr Leben riskieren und verlieren, um an Lebensmittel zu kommen.

Die Weltgemeinschaft hatte eine Agenda, wonach der der weltweite Hunger bis 2030 überwunden sein sollte - utopisch. Jetzt hungern fast eine Milliarde Menschen und noch dreimal so viele haben nicht genug, sind unterernährt und unterentwickelt.
Und dann lese ich die Losung für diesen Tag aus dem 121. Psalm: „Der Herr behüte Dich vor allem Übel. Er behüte deine Seele.“ Ja, mein Körper ist behütet, ich hungere nicht aber meine Seele hat es nötig - damit wir nicht verhärten, uns nicht gewöhnen und das tägliche Brot weiter erbitten - für uns, für uns alle, alle, alle.

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  Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen

Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen

Cornelia Götz, Dompredigerin - 04.03.2024

Vor vier Jahren um diese Zeit begann sich ein uns bis dahin unbekanntes Virus sich in unseren Alltag einzuschleichen bis es im März alles dominierte, so dass auch wir vor Schreck und ungeübt mit solchen Maßnahmen für eine kurze Zeit den Dom geschlossen haben.
Es waren Tage, die sich unwirklich und unwahrscheinlich anfühlten und wir hatten alle Mühe angesichts des angeordneten Stubenarrestes nicht völlig aus dem Tritt zu kommen.
Wir hier saßen und trauerten um all die schöne Musik vor und zu Ostern und dachten wieviel besser wir dran wären, gäbe es am Dom eine Malschule und nicht ausgerechnet eine Singschule. Denn Singen schien lebensgefährlich.
Und dann haben wir eine Form gesucht - um die zu erreichen, die hier alle Tage zum Abendsegen kommen und auch, damit die eigene Seele nicht ganz und gar verstopft und haben deshalb also zu viert hier im stillen Dom gestanden und Abendsegen aufgezeichnet. Wir waren keine Profis und so mussten wir den, der uns besonders gut gelingen schien gleich wieder aus dem Netz nehmen, weil YouTube uns wegen Urheberrechten bremste.
Wir hatten das Abendlied „Der Tag mein Gott ist nun vergangen“ eingesungen.
„Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen und wird vom Dunkel überweht. Am Morgen hast du Lob empfangen, zu dir steigt unser Nachtgebet.
Die Erde rollt dem Tag entgegen; wir ruhen aus in dieser Nacht und danken dir, wenn wir uns legen, dass deine Kirche immer wacht.
Denn unermüdlich, wie der Schimmer des Morgens um die Erde geht, ist immer ein Gebet und immer ein Loblied wach, das vor dir steht.
Die Sonne, die uns sinkt, bringt drüben den Menschen überm Meer das Licht: und immer wird ein Mund sich üben, der Dank für deine Taten spricht.
So sei es, Herr: die Reiche fallen, dein Thron allein wird nicht zerstört; dein Reich besteht und wächst, bis allen dein großer, neuer Tag gehört.“
Es ist ein altes englisches Lied, der Brexit saß uns ja in den Knochen und war damals nicht begreiflich woran wir uns jetzt schon gewöhnt haben.
Es ist ein so tröstliches Lied, weil es davon erzählt, dass irgendwo immer jemand wach ist, der betet und singt, Gott lobt für einen neuen Morgen und den Zauber, der diesem Morgen innewohnt und die Geschwister, die irgendwo anders unruhig schlafen oder krank zu Bett liegen , ins Gebet nimmt. Der Weg der Sonne, der ja der Weg der Erde ist, war und ist verlässlich, was immer geschieht und es geschieht viel, Gutes und Böses, irgendwo ist einer wach, der dankt und bittet.
Jetzt sind wir es während anderswo tiefe Nacht oder ein neuer Tag beginnt.
Was für ein tröstliches Gefühl und wie gut, dass wir das tun können.

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  Nie wieder

Nie wieder

Cornelia Götz, Dompredigerin - 02.03.2024

Wir sind auf dem Weg durch die Passionszeit.
Die Sonntage haben Namen, die helfen, uns zu gründen - auf dem Weg zu einem verstörenden Moment – dem Tod eines Unschuldigen, der schreien wird, wie es in den Herrnhuter Losungen über diesem Samstag heißt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du ich verlassen?“
Die Sonntage der Passionszeit heißen bisher:
Estomihi – sei mir ein starker Fels!
Reminiscere – erinnert Euch!
Okuli – meine Augen.
Sich klären und bekennen – die Vergangenheit nicht vergessen – hinsehen und so, wenn schon nicht verstehen so doch glauben lernen, dass hier einer ein für alle Mal gestorben ist, damit der Tod, erst recht solcher Foltertod. nie mehr das letzte Wort hat – auch wenn er immer wieder geschieht.
Nie mehr. Nie wieder…
So klein ist der Schritt und schon sind wir hier mitten in der Passionszeit und an einem Samstag in Braunschweig, wo in zwei Stunden hoffentlich sehr viele Menschen aus allen Himmelsrichtungen auf dem Schlossplatz angekommen sein werden – um für eine „solidarische Stadt für eine solidarische Welt“ zu demonstrieren und zu zeigen, dass es uns ernst ist mit dem „nie wieder“, dass aus Deutschland nicht Krieg, Gewalt und Angst exportiert werden soll, sondern Würde und Frieden.
Beides ist auch hier unter uns erheblich gefährdet.
So sehr, dass man „nie wieder“ neu begreifen muss.
Das geht derzeit gut durchs Kino, Denn es ist ein Film angelaufen, „The Zone of Interest“, der uns in Mark und Bein schreibt, was nie wieder heißt – für jeden Einzelnen, denn es ist ein gruseliger Fake, wenn wir glauben, es könnte eine friedliche Normalität in Wohlstand und Sicherheit für die einen geben, während die anderen ihr Leben verlieren.
Nicht damals am Rande von Auschwitz, nicht jetzt.
Nie wieder das eine und ein für alle Mal das andere.
Beides sind Ansagen über etwas, das sich nicht wiederholen darf oder kann und doch liegt zwischen beidem ein himmelweiter Unterschied.
Es ist der zwischen Gut und Böse.
Denn das ein für alle Mal von Karfreitag ist etwas kategorial anderes als alle unsere „nie wieder“. Karfreitag Grund zur Hoffnung. DER Grund zur Hoffnung.
Oder mit den Worten von Hannah Ahrend, die am 20. Juli 1963 an Gershom Scholem schrieb: „Ich bin in der Tat heute der Meinung, dass das böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe… Es kann die Welt verwüsten, weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert. Tief aber, und radikal ist immer nur das Gute.“
Oder: „Nun aber bleiben: Glaube, Liebe, Hoffnung …“ und der Weg zum Schlossplatz.

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Mittwoch: mit Versöhnungsgebet von Coventry
Freitag: mit Feier des Abendmahls

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MUSIKALISCHES MITTAGSGEBET

Sonntag – 10.00 Uhr
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Montag bis Samstag – 14.00 Uhr
durch Mitglieder der DomführerGilde
In der Zeit von Anfang Januar bis Mitte März finden keine öffentlichen Führungen statt!